Angst
BürgerInnen in westlichen Demokratien haben keine Angst vor Kameraüberwachung und Polizei, selbst Schwule küssen sich öffentlich vor Überwachungskameras. (taz 14.9.06)
Seitdem es die Kameraüberwachung und die Uniformträger in der City gibt ist die Stadt wieder sauber, wie 'Früher'.
Keine BettlerInnen mehr.
Keine Schwarzen.
Und die Punks sind auch ruhig.
Wieso sollten demokratische schwule oder nichtschwule BürgerInnen sich für Schwarze, BettlerInnen oder Punks interessieren.
Wann ist 'Früher' gewesen? Vor der 'Gründung' der BRD?
Afrikaner mit dunkler Hautfarbe und BettlerInnen sind keine BürgerInnen. Und falls da einer in Polizeihaft stirbt, hat er sich sicher selbst angesteckt.
Das schaffen die sogar, wenn sie ruhiggestellt und ans Bett gefesselt sind, sagt die demokratische Polizei.
Wieso sollten demokratische BürgerInnen Angst haben vor diesen Sicherheitsmaßnahmen? Es sind doch alles ihre Angestellten, die genau das tun, was demokratische BürgerInnen von ihnen erwarten, und mit dem demokratische BürgerInnen selbst nichts zu tun haben wollen.
Nun kann die demokratische BürgerIn doch wieder unbesorgt Einkaufen in der City ohne belästigt zu werden.
Das ist doch gut, sagt die demokratische Mutter.
Die Schwarzen verkaufen doch alle Drogen. Das hat mit Rassismus nichts zu tun, rassistisch ist, wer die Realität leugnet und meint immer mehr Schwarze ins Land lassen zu müssen.
Die haben einfach eine andere Kultur, das paßt hier nicht, sagt der demokratische Hundehalter.
Das hat mit Rassismus nichts zu tun, sagt die demokratische Presse.
Demokratische BürgerInnen sind gegen Rassismus, aber die Schwarzen in der City sind kriminell und das geht nicht. Und dann wird noch die Polizei beschimpft, wenn sie gegen DIE vorgeht.
Das hat mit Rassismus nichts zu tun, sagen auch demokratische BürgerInnen.
Und den Asozialen hilft man eh besser dadurch, daß man sie zur Arbeit zwingt.
Das ist keine Zwangsarbeit, denn das ist ja nur zum Besten der Asozialen, sagt der demokratische Pastor. Außerdem begründen 1-Euro-Jobs juristisch kein Arbeitsverhältnis.
Auch Zwangsarbeit lehnen demokratische BürgerInnen ab.
Das Menschen beim Versuch der Einreise nach Europa sterben ist tragisch, sagen demokratische PolitikerInnen. Deshalb kaufen demokratische PolitikerInnen afrikanische Staaten, damit sie diese Menschen schon vorher abfangen.
Was dann mit den Menschen passiert, wissen die demokratischen PolitikerInnen nicht. Für das, was in Afrika passiert, sind ja nun nicht sie verantwortlich.
Um dafür zu sorgen, daß diese Menschen auch wirklich draußen bleiben ist der biometrische Paß und ein Ausbau der Überwachung der Grenzen doch gut. Das ist doch auch in deren Interesse, die kommen hier in Europa doch sowieso nicht klar.
Die Probleme müssen in Afrika gelöst werden, daß ist im Interesse der Menschen, sagt die demokratische Nachrichtenkommentatorin.
Demokratische BürgerInnen können überall hinreisen, wo sie hin wollen, schließlich bezahlen sie ja dafür. Das ist doch Demokratie.
Wieso sollten demokratische BürgerInnen sich vor immer mehr Überwachung fürchten, daß sind doch ihre PolizistInnen, und das stimmt. Die Kolonialtruppen Großbritanniens waren schließlich auch keine Bedrohung für die britische Upperclass.
Demokratische BürgerInnen haben Angst, aber nicht vor Überwachung.
Überwachung hilft ihnen ihre Angst im Zaum zu halten.
Wovor haben demokratische BürgerInnen Angst?
Menschen, die Verbrechen begehen haben in der Folge meist Angst vor Bestrafung.
Die Geschichten von Conan Doyle mit Sherlock Holmes spiegeln die Angst der britischen Upperclass als Folge ihrer imperialen Verbrechen auf denen ihr Reichtum fußte. In vielen Geschichten mit Sherlock Holmes geht es um Verbrechen gegen Mitglieder der Upperclass, die Folge von Verbrechen derselben in den Kolonien sind, eine Schuld, die wie ein dunkler Schatten den Tätern und ihren NachfahrInnen folgt.
Demokratische BürgerInnen wissen ganz gut, daß ihr Reichtum nicht auf ihrer Hände Arbeit basiert. Demokratische BürgerInnen sind aufgeklärt, obwohl sie meist so tun, als wüßten sie nicht, wie Kapitalismus funktioniert.
Demokratische BürgerInnen wissen ganz gut, daß der Kapitalismus nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Sie wissen daß ihr Wohlstand auf einem Verbrechen basiert.
Und sie haben Angst, wie alle VerbrecherInnen.
Angst, daß die Folgen ihrer Taten sie einholen könnten.
Deshalb kann keine Tür Schlößer haben, die stabil genug sind.
Deshalb kann es keine Kamera zu viel geben.
Deshalb kann es nie genug Polizei geben.
Deshalb kann es keine Grenze geben, die undurchlässig genug ist.
Deshalb ..
Auch ich habe manchmal Angst.
Strukturelle Systeme des Verbrechens, wie Kapitalismus, Sexismus und andere Herrschaftsverhältnisse, verursachen eine tatsächliche Bedrohung. Verbrechen und Gewalt werden zum Normalen in der Gesellschaft.
Und doch habe ich mir vorgenommen, die Schlösser in meiner Wohnung auszubauen und die Schlüssel zu vergraben.
Und zu vergessen, wo ich sie vergraben habe.
Auch auf Kameraüberwachung verzichte ich, nicht nur im Clo. Ich werde auch die Kamera an der Außentür abmontieren und zerstören.
Die Reste kann ich als Buchstütze im Regal benutzen.
Auch meine Wohnungstür werde ich nicht abschließen.
Nur wenn wir aufhören Angst zu haben, wird Gewalt aufhören.
Ich behaupte nicht, daß mir dies immer gelingt. Aber das ist mein Ziel.
Es sind die Systeme der Angst die Herrschaft möglich machen und reproduzieren.
Die Angst vor den Fremden.
Die Angst vor Abwertung durch Andere.
Die Angst vor geschlechtlicher Unzulänglichkeit.
Die Angst vor sozialer Ausgrenzung.
Die Angst vor sexueller Gewalt.
Die Angst ..
Ich sage nicht, daß diese Ängste keine realen Hintergrund haben.
Es gibt brutale menschenverachtende Herrschaftsverhältnisse, und brutale Gegengewalt, die diese Gesellschaft bestimmen. Sexistische, kapitalistische und rassistische Gewaltverhältnisse und Gegengewalt, die häufig nicht weniger rassistisch und sexistisch ist, durchziehen unseren Alltag mit einer Spur der Verwüstung.
Die Angst führt aber dazu, daß wir diese Herrschaftsverhältnisse nur immer weiter stärken.
Ich will keine Angst mehr haben.
Ich sage nicht, daß mir dies gelingt.
Nur falls mir der Kakau ausgeht und ich Angst bekomme, übernachte ich im Baumhaus im Garten, die Schlösser werde ich ausgebaut lassen.
Das ist zumindest mein Plan und ich halte ihn für sinnvoller als alles, was ich bisher sonst dazu gehört habe.
Ada - Hannover/Berlin, 2003 bis 2010 -
Fin
Impressum:
Die Weiterverbreitung, Nutzung und Spiegelung des Textes ist ausdrücklich erwünscht.
Der Text steht unter der Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/ - This work is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License
Und noch ein kurzer Text; Angst
Zuletzt aktualisiert 30.01.2021
Angst. Ein Text zu den Stichworten Überwachungsstaat Innere Sicherheit Kriminalität Kameraüberwachung Polizei Demokratie Bürger Bürgerrechte Diebstahl Drogen Dealer City
Angst
Die Angst der BürgerInnen vor den Kriminellen heute, ist in vielem vergleichbar der Angst des Bürgertums vor den 'Massen' im 19ten Jahrhundert. Auch die Angst heute ist durchsetzt mit sozialdarwinistischem Gedankengut, der Angst, daß die 'Falschen' immer mehr würden.
Auch diese Angst teilt also Gesellschaft in feststehende Gruppen, ohne zu sehen, daß diese Gruppen, als Identitäten, erst durch die Gesellschaft produziert werden.
Und die Angst verschleiert ihre Ursachen.
Bei der Angst vor den Anderen, der Kriminalität, handelt es sich vor allem um verschobene Ängste.
Erstens findet in dieser Angst die Angst der BürgerInnen vor dem Verlust ihres Status, durch Arbeitslosigkeit, durch Abwertung vormals hochqualifizierter Fähigkeiten im Prozess technologischer Rationalisierungen von Arbeitsverhältnissen, einen Ausdruck.
Zweitens führt die eigene Schuld, die Beteiligung an den Verbrechen des Kapitalismus, zur Angst vor Bestrafung. Die Elterngeneration der 68er war noch in der Lage naiv an den 'rheinischen' Kapitalismus als ansich gerechtes und gutes System zu glauben.
Die Generation der 68er kann dies nicht, dazu ist sie zu aufgeklärt, sie weiß um das kapitalistische Verbrechen und kann höchstens das einmal Gewußte ins Unbewußte abdrängen.
Gewußt bleibt aber gewußt und das Wissen wirkt auf die neuen KarrieristInnen als untergründige Schuld fort, dies führt zur Angst vor Vergeltung.
Gerade das (ins Unbewußte abgedrängte) Wissen um die verbrecherische Grundstruktur kapitalistischer Wirtschaftsweise führt so bei den Profiteueren des Kapitalismus aus dieser 68er-Generation zu einer Verschärfung reaktionärer Sicherheits- und Kontrollphantasmen als Angstabwehr. Die Angst vor Vergeltung hervorgegangen aus der (unbewußten) Schuld, führt so zu ihrer eigenen Verstärkung. Denn die Angstabwehr und die dadurch verstärkten Sicherheits- und Kontrolltechnologie generiert immer weitere schlimmere Verbrechen und immer weitere Schuld, z.B. die wissentliche Abschiebung von Asylsuchenden in Länder in denen sie gefoltert und ermordet werden - eine Praxis die auch vom Außenministerium unter Joschka Fischer unterstützt wurde (mit Gutachten) -, die Mißachtung grundlegender Bürgerrechte in der Gesetzgebung, die offensive Beteiligung an Kriegen, ..
Die Angst führt so zu einem Handeln, daß die Angst verstärkt bis hin zu paranoiden Weltbildern der Einteilung der Welt in Gut und Böse. Wobei das Böse überall aus allen Ritzen zu kriechen scheint.