Achten Sie auf Ihre Gesundheit!
Als ich erwachte befand ich mich in meinem Bett, aber irgendetwas war seltsam, irgendetwas stimmte nicht. Die Sonne schien durchs Fenster, die Vögel sangen und ich stand auf.
"Sie haben in den letzten 4 Wochen 1,3 Kilo zugenommen, bitte überprüfen Sie Ihr Eßverhalten", piepste mein Bett.
Als ich meinen üblichen Latte Machiato in der Küche trinken wollte, fand ich eine undefinierbare Brühe vor. Die automatische Kühlschrank-Kaffeemaschinen-Einheit hatte nach Rücksprache mit meinem Bett beschlossen mich auf Schonkost zu setzen. Ich entleerte das Glas in die Spüle und stellte die Kaffeemaschine auf manuelle Handsteuerung um. Durch meine individuelle Kontrollkarte ging ein Vibrieren, ich hatte erneut zehn Minuspunkte bei meiner Krankenkasse bekommen. Auf Arztbesuche sollte ich aus Kostengründen wohl erst einmal verzichten.
Im Bad vollzog der Spiegel einen automatischen Irisscann und das Clo überprüfte meine Zuckerwerte. Auch dies brachte mir weitere Minuspunkte bei meiner Krankenkasse ein, da ich die Anweisungen zur Diabetes-Prophylaxe wieder mißachtet hatte.
Das dauernde Vibrieren meiner individuellen Kontrollkarte begann mich zu nerven, ich verstaute sie in der Badezimmerschublade.
Ich durfte nur nicht vergessen, sie wieder herauszunehmen, falls ich auf die Straße gehen wollte, sonst würde ich bei jeder RFID-Identitäts-Kontrollstelle als potentielle Straftäterin erfaßt werden. Ich hatte schon einmal auf Grund meiner Vergeßlichkeit 8 Tage im SoSiG (Sozialen-Sicherheits-Gewahrsam) verbracht und mußte Befragungen durch diverse TherapeutInnen und PolizistInnen über mich ergehen lassen. Als Lehrerin hätte ich keine Berufsperspektive mehr gehabt, aber, Kinder frühzeitig an die individuelle prophylaktische Selbstkontrolle heranzuführen, hätte mir eh keine Freude bereitet.
Auch die Strümpfe, die automatisch Blutdruckwerte übermittelten, leuchten schon dunkellila. Ich warf sie bei Seite und entschied mich für ein paar alte Socken von meiner Großmutter.
Ich kochte mir mit einer alten Espressokanne vom Flohmarkt auf einer illegalen elektrischen Kochplatte meinen zweiten Espresso um nicht noch mehr Negativpunkte zu bekommen. Die automatische Kühlschrank-Kaffeemaschinen-Einheit mußte ich irgendwie umgehen, falls ich heute noch was vernünftiges Essen wollte. Auf dem Schwarzmarkt hatte ich vor einigen Tagen eine alte Raviolikonserve erworben, ganz ohne elektronische Absicherung. Die würde ich heute essen.
Außerdem baute ich illegal im Garten nicht zertifizierte Lebensmittel an. Etwas Pflücksalat war dort noch vorhanden. Das war natürlich ein Verstoß gegen das Patent- und Sortenrecht. Ich hoffte, daß mein Garten für die Spezialfahnder der IG-Nahrung (Interessen-Gemeinschaft-Nahrung) zu unbedeutend war.
In einer geheimen Schublade hatte ich auch noch etwas Scho-ka-kola, dafür konnte ich in den Zwangsentzug kommen. Aber Kakau war einfach meine Lieblingsdroge.
Gerade als ich meinen dritten Latte Machiato trank klingelte es an der Tür. Noch bevor ich öffnen konnte wurde die Tür zerstört und ein Zugriffskommando des privatstaatlichen Selbsthilfeschutzes stürmte die Wohnung.
Ich erlangte das Bewußtsein erst wieder im Unterbindungsgewahrsam.
Eine Therapeutin, nicht älter als ich, lächelte mir aufmuntert und gleichzeitig distanziert zu.
"Sie brauchen Hilfe. Sie wissen, daß wir laut Gesetz verpflichtet sind, selbstschädigendes Verhalten zu unterbinden.
Im Moment sind Sie nicht einsichtsfähig. Glauben Sie mir, im Laufe der Behandlung wird sich das ändern."
Ich war durch Psychopharmaka ruhiggestellt und versuchte mich zu befreien, dagegen anzukämpfen. Schweißgebadet verlor ich erneut das Bewußtsein.
Als ich wieder aufwachte, lag ich festgeschnallt in einem Operationssaal.
Die Schwester lächelte mich an.
"Keine Angst."
Der Arzt nickte.
"Wir haben viel Erfahrung mit dieser Form der Behandlung."
Er schob einen Helm mit Elektroden auf mich zu.
"Das ist nur zu Ihrem Besten."
Ich sah die Elektroden immer näher auf mich zukommen. Ich konnte mich nicht rühren. Dann war der Helm über mir.
In meinem Kopf begann es wie wild zu klingeln.
Es war der Wecker.
Die Sonne schien tatsächlich ins Zimmer und die Vögel sangen, aber ansonsten hatte ich geträumt. Mein Kühlschrank brummte in der Küche vor sich hin, von Elektronik hatte er noch nie etwas gehört. Espresso- und Kakautrinken waren noch nicht strafbar. Und meine Socken brauchten zwar eine Wäsche aber meinen Blutdruck konnten sie mir nicht mitteilen.
Ich trank einen Kakau und entschloß mich weniger Zeitung zu lesen. Jedesmal hinterher bekam ich diese Alpträume.
Und ich nahm mir vor, mich auf den Widerstand im Untergrund vorzubereiten.
Ada - Hannover/Berlin, 2003 bis 2010 -
Fin
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Und noch ein kurzer Text; Blutdruckmessgeräte
Zuletzt aktualisiert 30.01.2021
Blutdruckmessgeräte. Text zur Funktion der Medizin bei der Produktion des modernen Subjektes; Medizin Meßtechnik Vorsorgeuntersuchungen Genetik Gen Screening Biopolitik BioMacht Gentechnik Medizintechnik Neurologie Kernspintomographie Ultraschall
Blutdruckmessgeräte
Auf den ersten Blick mag es seltsam wirken Blutdruckmessgeräte als einen Baustein der Entmündigung des Selbst zu begreifen.
Blutdruckmessgeräte können aber als Bild für die medizinische Messtechnik begriffen werden. In diesem Sinn tragen Blutdruckmessgeräte zu einer Entfremdung der Menschen von ihrem Körper bei. Zunehmend wird der Begriff Gesundheit nicht mehr durch die eigene Leibwahrnehmung bestimmt, sondern durch medizinisch technische Normen, z.B. Blutdruckwerte, die maschinell mit Blutdruckmessgeräten unter Absehung vom einzelnen Menschen und ihren Bedürfnissen überprüft werden, wie der Reifendruck beim Auto. Nicht ich bestimme, ob ich krank bin sondern eine technische Instanz, z.B. das Blutdruckmessgerät, das Zugriff auf meinen Körper im Sinn einer biopolitischen Optimierung des Bevölkerungskörpers nimmt.
Blutdruckwerte, wie sie durch Blutdruckmessgeräte bestimmt werden, sagen über den Einzelfall sehr wenig, da daß Wissen über negative bzw. positive Folgen spezifischer Blutdruckwerte primär auf Statistik basiert und im Einzelfall das, was als positive und negative Folge gewertet würde, auch unterschiedlich wäre. Im Einzelfall kann Mensch, der Blutdruckwert und das Blutdruckmessgerät völlig egal sein, vielleicht fühlt sie sich ja mit einem hohen Blutdruck wohler und will ihn haben.
Aus der Sicht biopolitischer Optimierung des Bevölkerungskörpers ist die Statistik, der mit Blutdruckmessgeräten erhobenen Blutdruckwerte und ihrer Folgen, aber das ausschlaggebende, daß individuelle Wohlbefinden ist hier völlig irrelevant. Das einzige was zählt ist die Körper statistisch so lange wie möglich in einem Zustand zu erhalten, der eine kapitalistische Vernutzung erlaubt. Dies genau leistet das Denken in Blutdruckwerten, erhoben durch Blutdruckmessgeräte, und das Handeln bestimmt durch Blutdruckwerte, erhoben durch Blutdruckmessgeräte.
Die maschinelle Sicht auf den Menschen, und wie sie optimal gewartet werden kann, die in der Ideologie und Praxis der Blutdruckmessungen mit Blutdruckmessgeräten zum Ausdruck kommt, ist dabei passgenau zur Integration dieser Maschine Mensch in die Gesamtstruktur maschineller Produktionsabläufe und der Optimierung der Vernutzung der Arbeitskraft der Mensch-Maschinen.
Blutdruckmessgeräte sind Teil eines kapitalistischen Entfremdungszusammenhangs, der aber heute modern nicht mehr primär als Zwang von Außen auftritt, sondern längst als Zwang zur Selbstoptimierung internalisiert worden ist.
Die meisten Menschen benutzen Blutdruckmessgeräte freiwillig um ihre weitere störungsfreie Funktionsfähigkeit im kapitalistischen Verwertungsprozess sicherzustellen. Und zunehmend definieren sich auch Menschen selbst über die vom Arzt gemessenen sonstigen Werte. "Wie geht es Dir?", wird wohl demnächst mit einem maschinellen Ausdruck der diversen medizinischen Messapparaturen, wie z.B. Blutdruckmessgeräten, beantwortet werden, oder mit einem, "Ich weiß nicht, ich muß erst messen."