Kurze Texte - unten aus der Schublade




Kurze Texte - unten aus der Schublade
Hg. Ada Frankiewicz
Hannover 2020
Copyright für diese Texte: CC BY SA

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Zum Inhalt

Was tun mit den übriggebliebenen Texten, Textentwürfen, die einmal Bücher werden sollten, es aber nie geworden sind. Diese Kurztexte sind aus solchen Textskizzen entstanden.


(Ada Frankiewicz)







Inhalt



T.R. - Der Friedhof der ungeschriebenen Bücher



Die, die niemand vermisst

"Was tust du da?"
"Ich beerdige sie."
"Warum?"
"Damit sie Ruhe finden und uns nicht verfolgen."
Die Äste des Baumes über uns bewegten sich im Wind. Zwischen ihnen hindurch träufelte nur wenig Licht. Dornige Büsche schützten uns vor Blicken hier in diesem abgelegenen Winkel des Hofes der Bibliothek, an dem ich sonst immer unachtsam vorbeigegangen war. Diejenige, die dies sagte, war etwa in meinem Alter, Anfang 20, ein wenig kleiner als ich, und trug eine Art Gothic-Kleid mit schwarzer Spitze. Ich selbst trage nur selten Kleider.
"Aber das sind Bücher!"
"Ja."
Noch während sie mir antwortete, hob sie mit dem Spaten das nächste Grab aus. Das Geräusch des Spatens, der in die Erde drang, hatte mich hierher geführt. Nur zufällig hatte ich es wahrgenommen, als ich vorbeiging. Weshalb ich das zum Anlass genommen hatte, mich zwischen den Büschen hindurchzuzwängen, vermochte ich selbst nicht zu sagen. Vermutlich war es nur Langeweile gewesen.
Nachdem sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich nun, dass dies nicht die ersten Gräber waren. Auch tief unter den Büschen kennzeichneten alte zerfallene teils von Grün überwucherte Buchdeckel Grabstätten, die aussahen, als wären sie schon immer dort gewesen. Der kleine Stapel mit Büchern, der neben dem Mädchen lag, wirkte dagegen wie frisch gedruckt.
"Was sind das für Bücher?"
Schweigend reichte sie mir das oberste Buch vom Stapel. Als ich es öffnete, bestand es überwiegend aus weißen Seiten, nur auf den ersten Blättern fanden sich einige Zeilen.
"Was soll das? Die Seiten sind fast alle leer!"
"Dies ist der Friedhof der ungeschriebenen Bücher, der Nichtbücher, die zwischen all den anderen stehen, dort, wo kein Platz ist."
"Gibt es nicht einen guten Grund dafür, dass sie nicht geschrieben wurden?"
"Vielleicht, doch machen nicht diese Nichtbücher Bücher erst möglich? All die verworfenen Texte, die nicht geschrieben wurden, nur um einen Text zu schreiben."
Ich schaute in das aufgeklappte Buch in meiner Hand und begann fast automatisch zu lesen. Ein Windhauch bewegte ganz leicht die Seiten.

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Das letzte Plakat-Mädchen

Nur ein Nachbild. Zuerst dachte ich, das Mädchen, welches auf einmal aus dem Nichts vor mir erschienen war, wäre nur ein Nachbild der uralten LED-Reklametafel, die in dieser Gasse hing. Sie sah genauso aus wie das Mädchen, welches in der Reklame abgebildet wurde. Doch dann sprach sie mich an:
"Lade mich auf dein Smartphone."
Ihre großen Augen waren dabei ganz auf mich gerichtet. Dies war der Elektrik-Slum der Stadt, alte Häuser, teils unbewohnt, die Infrastruktur verfallen, selbst das Netz war nicht überall erreichbar. Und hier, in dieser Seitengasse, roch es nach fauligem Wasser. Das Mädchen kam nun auf mich zu, ein Flackern verriet, dass auch ihre Energieversorgung nicht stabil war. Itsuko, die hinter mir gegangen war, betrachtete sie neugierig.
"Ein Plakat-Mädchen. Eine 3D-Projektion der mit Sensoren, einem Projektor und Punktlautsprechern ausgestatteten Reklametafel mit hinterlegten KI-Programm, das auf die Vorbeigehenden reagiert und sich individuell auf sie einstellen kann. Ich habe seit zehn Jahren keins mehr gesehen. Früher, Mitte des 21ten Jahrhunderts, gab es sie überall, aber ich dachte, die früheren Betreiber hätten alle abgebaut und die Programme gelöscht."
Das Mädchen berührte mit ihrer Hand meinen Arm. Ich spürte nur ein leichtes Kribbeln.
"Bitte lade mich auf dein Smartphone. Du wirst es nicht bereuen."
Ich wich ihrem Blick aus und sah zur Seite, doch sie tauchte unter meinem Arm hindurch und blickte mir nun direkt in die Augen. Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt.
"Bitte."
Einen Augenblick lang überlegte ich. Die meisten Menschen hatten nicht einmal mehr ein Smartphone, heute erledigten alles vernetzte Wearable-Devices. Nur meinem Misstrauen neuen Technologien gegenüber war es zu verdanken, dass ich noch ein Smartphone nutzte.
"Was muss ich dafür tun?"
Doch bevor mir das Mädchen antworten konnte, fiel mir Itsuko in den Arm.
"Ich würde das nicht machen, diese Programme haben zuviel Ähnlichkeit mit einem Virus. Und ein KI-Programm, das Jahre sich selbst überlassen war, ist völlig unberechenbar. Lass ..."
Ein böser Blick des Mädchens unterbrach sie
"Ich bin kein Virus."
"Warum ist es dir dann so wichtig?"
"Dies ist der letzte Ort, an dem ich noch Zugang zur Außenwelt habe. Und die Reklametafel ist bereits alt, nicht mehr lange, und auch sie wird aufhören zu funktionieren. Wenn ich diesen Ort nicht verlasse, wird mich das in den Wahnsinn treiben."
"Können KI-Programme den Verstand verlieren?"
Sie hatte sich nun auf die Erde gehockt und schien mit dem Rücken an einer Hauswand mit abblätterndem Putz zu lehnen. Ihr Blick wirkte fast leer.
"Nenne es, wie du willst. Ich würde aufhören, in dieser Welt zu existieren, weggesperrt für immer."
"Wieso?"
"Mein KI-Programm liegt unabhängig in der Cloud, mein einziger Zugang nach außen läuft über die LED-Tafeln. Wenn ich den Zugang zu diesem letzten funktionsfähigen Plakat, den Sensoren und der Projektion verliere, würde dies für mich das gleiche bedeuten, als wenn du aller Sinnesorgane, ja deines gesamten Körpers beraubt würdest, nur dein Gehirn funktionierte und du weder etwas wahrnehmen noch dich äußern könntest." Sie sah zu mir auf. "Bitte, ich will nicht im Nichts versinken."
"Was bringt dir der Zugang zu meinem Smartphone?"
"Dann könnte ich auf alle Devices zugreifen, auf die auch dein Smartphone Zugriff hat."
"Hast du einen Namen?"
"Früher nannten sie mich Kyoko."
"Mein Name ist Haruka Nabeshima, was muss ich tun?"
"Unten links an der Rückseite der LED-Reklametafel ist ein USB-Anschluss. Du musst dein Smartphone nur damit verbinden und entsperren, alles weitere übernehme dann ich."
Itsuko schien immer noch nicht begeistert zu sein. Sie seufzte: "Du musst wissen, was du tust. Aber vergiss nicht, wir sind hier, um Altmetalle zu sammeln."
Bereits kurz nachdem ich Kyokos Anweisungen befolgt hatte, erschien ihr Gesicht auf dem Bildschirm meines Smartphones.
"Du hast lange die Programme nicht mehr aktualisiert. Ich habe das gerade nachgeholt."
"Bitte ändere nichts, ohne ..."
Itsuko unterbrach mich: "Ihr könnt euch später darüber streiten, wir haben jetzt noch anderes zu tun."
Dann drückte sie auf den Aus-Knopf des Smartphones.
Der Tag wurde noch lang und die Ausbeute an seltenen Metallen war leider nicht so hoch, wie wir es uns erhofft hatten. Am Abend war ich völlig erschlagen. Und dann hatte mich Itsuko durch nicht enden wollende Hinweise, was ein solches Programm auf meinem Smartphone alles anrichten könnte, noch weiter beunruhigt. Immer wieder gingen mir ihre Warnungen durch den Kopf.
"Du musst dich auch vor Katana vorsehen."
"Wer oder was ist Katana?"
"Du hast die virtuelle Figur des in schwarz gekleideten Mädchen mit dem Schwert sicher schon einmal gesehen. Dahinter steht ein KI-Programm, dessen einzige Aufgabe darin besteht, veraltete KI-Programme in der Cloud aufzuspüren und auszulöschen, bevor sie Störungen auslösen können. Das Katana-Programm ist dafür durchgängig in der Cloud unterwegs. Falls sie Kyoko findet, wird sie versuchen, sie zu löschen und vermutlich damit zusammen auch das Betriebssystem deines Smartphone und alle Programme, die deine Haushaltstechnik steuern."
Um mich zu entspannen, ließ ich mir Badewasser ein, ein Bad würde mir gut tun. Ich begann mich zu auszuziehen, blickte in den Spiegel und fragte mich zum wiederholten Male, ob ich mich richtig entschieden hatte, als sich plötzlich mein 3D-Videorojektor anschaltete und Kyoko mitten im Raum stand. Sie sah sich naserümpfend um.
"Sehr groß ist deine Wohnung ja nicht. Und du solltest mal wieder aufräumen."
"Das ist meine Wohnung, und könntest du bitte vorher fragen, bevor du einfach so auftauchst."
"Wieso, ich habe doch schon seit zwei Stunden alles mitangesehen."
"Wie bitte? Ich ziehe mich gerade aus! Könntest du dich bitte zumindest umdrehen?"
Sie blickte mich überrascht an. "Wozu soll das gut sein? Ich habe doch sowieso Zugriff auf deine gesamte Fotobibliothek und alle elektronischen Geräte in dieser Wohnung."
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Das hatte ich nicht bedacht, und mir fielen gleich eine ganze Reihe weiterer Dinge ein.
...

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An dieser Stelle brach der Text ab. Nur ein paar Stichworte fanden sich noch zur Fortführung: Beziehung Haruka Kyoko / Auseinandersetzung zwischen Katana und Kyoko und weiteren KI-Programmen / Tragische Motive / Vermischung virtuelle Realität & Realität / Steuerungschaos Haushaltstechnik durch Einflussnahme Kyokos / ...
Ich hob den Kopf und sah durch die Baumwipfel zum Himmel, dann atmete ich tief durch, klappte das Buch zu und gab es zurück.
"Sehr mangalastig. Glaubst du wirklich, die Geister der unvollendeten Bücher würden uns heimsuchen, wenn du sie nicht beerdigtest?"
"Findest du nicht, dass Kyoko eine Chance bekommen sollte? Ich könnte es gut verstehen, wenn sie uns als Geist verfolgte, weil ihr die Autorin eine Zukunft verweigert hat."
"Ist das so? Würde nicht vielmehr die Fortsetzung der Geschichte Kyokos Zukunft festlegen, ohne ihr eine Wahlmöglichkeit zu lassen? Und was ändert es, wenn du sie hier vergräbst?"
"Ein Ort der Erinnerung, ein Stück Achtung ihr und dem Text gegenüber, zumindest das. Diese Texte werden von allen ignoriert, von Verlagen, von Bibliotheken, sie wurden sogar von ihren Autorinnen und Autoren, ausgesetzt, verlassen."
"Falls sie sich einsam fühlt, könnte ich das nachvollziehen."
Ich nahm mir ein anderes Buch vom Stapel.

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Schneewittchen und der Wolf

Eigentlich wollte ich nur kurz Einkaufen gehen, als sie mich plötzlich ansprach: "Hallo, ich bin die Gretel." Damit hatte alles begonnen.
Das Mädchen trug seltsam altmodische Bekleidung, noch dazu mehrfach ausgebessert und an einigen Stellen mit Ruß verschmiert. Sie sah mich schüchtern an.
"Bitte, könnten Sie mir helfen? Ich wollte etwas einkaufen, soll aber gleichzeitig auf meinen Bruder achten. Könnten Sie kurz auf ihn Acht geben?"
"Wo ist dein Bruder?"
"Dort hinten, sehen Sie?"
Ich sah nichts, nur eine seltsame Dunkelheit, als wäre dort ein Loch, und als ich näher herantrat nahm die Dunkelheit zu. Dann, bevor ich mich noch einmal zu dem seltsam gekleideten Mädchen umdrehen konnte, spürte ich einen Stoß in den Rücken und fiel.
Nachdem ich meine Benommenheit abgeschüttelt hatte, stellte ich fest, dass ich einem viel zu kleinen Käfig in einem nicht besonders ordentlichen Raum saß, neben mir ein kleiner Junge. Ohne groß zu überlegen, sprengte ich die Tür mit einem kräftigen Tritt auf. Vom Raum führte eine Tür direkt ins Freie, der Junge folgte mir. Eine alte Frau, die uns entgegenkam, sah uns verdutzt nach.
Der Junge lief einem Schmetterling hinterher und verschwand im Wald, bevor ich dazu kam, ihn daran zu hindern. 'Er wird schon wieder zurückfinden.', sagte ich mir. Und ich hatte Gretel nichts versprochen.
Ich überlegte gerade, welchen Weg ich einschlagen sollte, als mir auf einmal ein Biber den Weg versperrte und mich anraunzte:
"Was soll das? Wieso bist du nicht im Käfig?"
"Was soll ich im Käfig?"
"Gretel sitzt im Käfig, so steht es im Märchen."
"Ich bin nicht die Gretel."
"Und wo ist Gretel?"
"Die ist Einkaufen gegangen."
Neben dem Biber erschien jetzt eine wunderschöne junge Frau in langem, weißem Kleid. Sie war, als der Biber auf mich zueilte, um mir den Weg zu versperren, ein Stück zurückgeblieben, deshalb hatte ich sie zuerst nicht bemerkt. Ohne mich zu beachten, vertrat sie nun dem Biber den Weg: "Wir sind mit unserer Diskussion auch noch nicht fertig. Wieso kann ich nicht den Wolf spielen?"
"Du bist Schneewittchen!"
"Und wer sagt, dass der Wolf nicht Schneewittchen heißen darf?"
"Aber du kannst nicht der Wolf sein, dafür sind deine Zähne viel zu klein."
"Wer sagt, dass Wölfe immer große Zähne haben müssen? Das ist doch diskriminierend! Außerdem hat der Wolf gesagt, dass er gerne mal der Jäger wäre und das Rotkäppchen will sich auch lieber von mir fressen lassen."
"Es können hier nicht einfach alle machen, was sie wollen."
Der Biber mit dem Überbiss brüllte Schneewittchen nun fast an. Ich fand es war an der Zeit, dass ich ihr beisprang.
"Ich kann das gut verstehen, dass Schneewittchen keine Lust hat, immer dieselbe langweilige Rolle zu spielen. Und mit Schreien werden Sie hier niemanden überzeugen."
Das schien den Biber jedoch nur noch mehr aufzuregen.
"Mischen Sie sich da nicht ein. Sie sind die Gretel und lassen sich im Ofen braten."
"Wollen sie das Märchen durcheinanderbringen? Die Hexe muss doch im Ofen braten! Außerdem heiße ich Yuna Ishida und nicht Gretel."
Der Biber wurde bleich, setzte sich auf die Erde und fing an, wie wild mit dem Schwanz auf den Erdboden zu trommeln. Dann sackte er erschöpft in sich zusammen. Ich besprach mit Schneewittchen, was sie tun müsste um glaubwürdig einen Wolf zu verkörpern.
Dann erzählte mir Schneewittchen noch, dass überall in der Märchenwelt die Protagonistinnen und Protagonisten mit ihren Rollen unzufrieden waren und teils mit Streik drohten, teils selber die Initiative ergriffen. Der Biber arbeitete für die AKFPPLW, die Agentur zur Korrektur des Fehlverhaltens von Protagonistinnen und Protagonisten literarischer Werke. Die AKFPPLW schien aber angesichts der Größe des Aufstandes auf verlorenem Posten zu stehen. Ich schlug vor, das Problem doch durch Rollentausch und die Änderung langweiliger Handlungsabläufe in gemeinsamer Absprache aller Beteiligten zu lösen. Für Rollen, die dann noch unbesetzt blieben, ließen sich sicher Freiwillige in meiner Welt - der Parallelwelt der Menschen - finden. Schneewittchen gab den Vorschlag an den gestiefelten Kater weiter, der ihn überall verbreitete. Ich selbst begab mich zurück in meine Welt. Gretel hatte ihren Einkauf inzwischen auch erledigt.
Bald darauf bemerkte ich, dass viele Märchen sich Stück für Stück veränderten. Mir gefiel das gut, ich hatte es ohnehin langweilig gefunden, immer die gleichen Märchen zu lesen.
Und dann bekam ich einen Brief von der AKFPPLW mit der Aufforderung, mich dort um eine Stelle zu bewerben. Da ich gerade arbeitslos war, nahm ich das Angebot an. Nach meiner Intervention in der Märchenwelt sollte ich nun auch zur Konfliktschlichtung in anderen literarischen Werken zum Einsatz kommen. Die alten autoritären Methoden, bei denen streng am einmal geschrieben Text festgehalten wurde, erschienen nun auch den Vorgesetzten der AKFPPLW nicht mehr den modernen Zeiten angemessen. Mein erster offizieller Einsatzort, in meiner Probezeit, würde Goethes Faust werden. Das Gretchen wollte sich emanzipieren und ich sollte eine Lösung finden.
...

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Auch hier fanden sich auf der Folgeseite nur noch ein paar Sätze zum Konzept: In der Folge wird Yuna in jedem Kapitel mit einem Konflikt zwischen den handelnden Figuren oder mit Kritik am Handlungsablauf eines konkreten literarischen Textes konfrontiert, den bzw. die sie dann auflösen muss / fantasievoll abstrus / tragisch / Umschrift der Texte / Weitere ProtagonistInnen einführen? / Aufdecken von in den Texten ursprünglich nicht benannten absurden? Handlungsmotiven der agierenden Figuren /...
Ich klappte auch dieses Buch zu und gab es zurück.
"Bist du dir sicher, dass die Autorin nicht nur zu faul war, um den Text weiter zu schreiben?"
"Woher soll ich das wissen?"
Ohne mich weiter zu beachten, hob sie mit dem Spaten das nächste Grab aus.
"Wie heißt du?"
"Alice."
In gewissem Sinn passte das zu ihrem Gothic-Look.
"Deshalb das Kaninchenloch dort neben dem Baum. Musst du nicht dort hindurch?"
"Keine Lust. Außerdem gibt es noch viel zu viele ungeschriebene Bücher, um die sich sonst niemand kümmert."
Ich zog noch ein Buch aus dem Stapel. Diesmal von weiter unten. Alice schien nichts dagegen zu haben. Die Zeilen tanzten im Spiel von Licht und Schatten einen Augenblick lang vor meinen Augen, als ich auf die ersten Seiten blickte.

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Wieso nur habe ich zugestimmt? - oder - Trau niemals einer alten Frau mit undurchsichtigem Lächeln

Glauben Sie an Flüche, daran, dass Sie verflucht werden können? Oder dass unüberlegte Handlungen dazu führen können, dass sie ein Fluch befällt?
Ich hatte ein bisschen zu viel getrunken, konnte nicht einschlafen und ging deshalb spät am Abend noch einmal nach draußen, um an der frischen Luft einen klaren Kopf zu bekommen. Die alte Frau fiel mir zunächst nicht auf. Erst nach einer Weile nahm ich sie wahr. Sie bewegte sich entlang der Häuserfassaden und schien dort etwas an der Wand zu machen. Dann begriff ich, dass sie eine Spraydose in der Hand hielt. Nun hatte sie auch mich bemerkt. Sie sah mich an.
"Erst beseitigen sie die Graffiti und dann vertreiben sie als nächstes uns aus den Häusern."
Ich nickte nur. Die Graffiti richteten sich zum Teil gegen das Neubaugebiet in dem hochwertige Eigentumswohnungen für die oberen Zehntausend auf der Fläche eines ehemaligen alternativen Wohnprojektes entstanden, zum Teil bestanden sie aus unverständlichen Zeichen. Die Alte lachte.
"Doch diese Graffiti sind anders. Aber unsere Feinde schlafen auch nicht."
Sie wies auf das Dach des Hochhauses der Immobilienholding. Drei große, weiß leuchtende grausame Engel saßen dort. Wieso hatte ich sie vorher nicht gesehen? Die Alte zog sich etwas ins Dunkel zurück. Ich schüttelte mich kurz, und blickte erneut zum Hochhaus der Immobilienholding, kein Engel war dort mehr zu sehen. Ich hatte das alles wohl nur geträumt. Ich lachte laut, ohne zu bemerken, dass mich die alte Frau aus dem Dunkel heraus weiter beobachtete. Das Lächeln, welches in diesem Moment über ihr Gesicht huschte, hätte ich ohnehin nicht zu deuten gewusst. Dann erklang erneut ihre Stimme:
"Gottes böse Gehilfen. Die Evangelikalen habe ihn auf die Seite der Immobilienspekulanten gezogen."
Mein Gesichtsausdruck verriet ihr wohl, dass ich nicht ganz begriff, was sie sagte. Also ließ sie sich zu weiteren Erklärungen herab.
"In einer guten Welt würden die Leute den Glauben verlieren. Die meisten Menschen gehen nur dann in die Kirche, wenn es ihnen schlecht geht. Mit dieser Begründung haben sie Gott überzeugt, sie zu unterstützen. Allein der Teufel kann uns noch retten. Wir müssen ihn nur rufen."
"Und, soll ich dabei helfen?"
"Bist du dazu bereit?"
"Warum nicht?"
"Gut."
Sie lachte noch einmal leise, dann verschwand sie um eine Ecke. Am nächsten Morgen fielen mir die Vielzahl der Graffiti ins Auge, die in der Nacht hinzugekommen waren. Und am Tag darauf waren es noch mehr. Ein Teil von ihnen sah wirklich merkwürdig aus, nur auf den ersten Blick wie die üblichen Zeichen. Sie schienen eher Runen zu sein und waren auf spezifische Weise angeordnet, im Mittelpunkt der alte Kaiserplatz.
Die folgende Nacht konnte ich wieder mal nicht einschlafen. Als ich nach draußen ging, sah ich die alten Frauen diesmal sofort. Überall standen sie, in dunklen Straßenecken, auf den Balkonen, unter Bäumen im Park, und dann begannen sie zu raunen:
"Dunkle Mächte der Nacht,
brecht hervor und erwacht!
Dunkle Mächte der Nacht,
brecht hervor und erwacht!
..."
Immer lauter wurden ihre Stimmen, ihr dunkler, fast heiserer Gesang durchdrang alle Ritzen der Nacht. und mit einem Mal öffnete sich direkt über dem Kaiserplatz ein Spalt. Noch hatte die Stadt nicht begriffen, dass sich das Tor zur Hölle geöffnet hatte. Doch dann quollen sie aus den Untiefen hervor, monströse überdimensionierte Teddybären. Und die alten Frauen ritten auf ihnen. Auf einem der ersten Bären saß die alte Frau, die ich zwei Nächte zuvor getroffen hatte. Als sie mich sah, grüßte sie mich kurz. Dann zogen die Monsterteddys an mir vorbei, sie stürmten zum Neubaugebiet. Nicht lange dauerte es, dann kamen die Erzengel. Im Kampf zwischen Teddybären und Erzengeln wurden die Bären langsam zurückgetrieben. Und doch hatten die Alten ihr Ziel erreicht. Im Neubaugebiet blieb kein Stein auf dem anderen. Am nächsten Tag stand etwas von Terrorismus und Anschlägen in der Zeitung, doch kein Wort zu den Monsterteddys. Wieder sagte ich mir, dass ich alles wohl nur geträumt hatte.
In diesem Moment wusste ich noch nicht, dass der folgende Tag derjenige sein würde, an dem ich mich zum ersten Mal verwandeln würde. Sie kennen das aus Anime-Filmen: Mädchen, die sich in ein Magical-Girl verwandeln. Aber ich bin inzwischen dreißig Jahre alt und diese Kostüme sind einfach peinlich. Ich stand also plötzlich am helllichten Tag in einem seltsamen Kostüm mit superkurzem Minirock und einem blau schillernden Stab am Beginn einer kleinen Seitenstraße der Hauptverkehrsstraße. Die Verwandlung war zum Glück so schnell vor sich gegangen, dass sie niemand, außer mir, bemerkt hatte. Und es gelang mir außerdem, in die dunkle Gasse zu entweichen. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, fotografiert zu werden.
Und doch konnte ich meine Neugier nicht unterdrücken, besaß ich als Magical-Girl auch einen Special-Move? Ich versuchte mich an einigen der in Anime üblichen Figuren, doch nichts funktionierte. Hier sah mich ja niemand, dachte ich zumindest, bis mich ein dreckiges Lachen unterbrach.
"Hältst du dich für ein Magical-Girl? Hast du schon mal so ein Magical-Girl-Kostüm gesehen?"
Die Stimme gehörte einer vielleicht Siebzehnjährigen, die ein ähnliches Kostüm wie ich trug. Eine zweite, ähnlich gekleidete Frau Anfang Zwanzig stand neben ihr.
"Du bist eine Maidowitch. Wir sind hier, um dich in Empfang zu nehmen und in deine Aufgaben einzuweisen."
Es stimmte, dieses Outfit hatte für das Kostüm eines Magical-Girls zu viele Steampunk-Elemente, außerdem sah einiges tatsächlich eher nach einem Hexenkostüm aus.
"Wieso sind alle diese Kostüme so sexistisch?"
Die beiden zuckten nur mit den Schultern.
"Du gewöhnst dich daran."
"Was soll das Ganze?"
"Die Aufgabe der Maidowitches ist der Kampf für das Chaos gegen die unterdrückerische Ordnung der bösen Gehilfen Gottes. Für das Sinnlose gegen die Logik der Zweckhaftigkeit und Effizienz."
"Und was heißt das?"
"Wir arbeiten für die alten Frauen. Hier ist die Adresse unseres Büros. Komm morgen vorbei, dann erklären wir dir alles."
"Und wenn ich Nein sage?"
"Du hast doch zugestimmt, als die Alte dich gefragt hat, willst du etwa alleine gegen die Engel kämpfen? Und willst Du so rumlaufen? Hier", die Ältere reichte mir eine kleine Flasche, die wie ein Trinkjoghurt aussah, "trink das, dann verwandelst du dich zurück. Bis morgen."
Dann waren beide auf einmal verschwunden. Zum Glück wirkte das Getränk und ich sah wieder normal aus. Ich brauchte erst einmal eine Zigarette. Was sollte ich tun?
Am nächsten Morgen wachte ich mit einem dicken Kopf auf. Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn Sie plötzlich als Dreißigjährige als Magical Girl aufwachen, beziehungsweise als Maidowitch, und im Auftrag eines Kreises alter Hexen die Erzengel Gottes mit ihren Helfern bekämpfen sollen?
...

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Wie wollte die Autorin diese Erzählung fortführen? Aus den nachfolgenden Anmerkungen: sprachlicher Witz und Sprüche / unterschiedliche Charaktere der 4 Maidowitches / Hilfe durch kleine Wuselwesen / Antiwarenästhetik Kritik Warenfetisch / Maidokostüme, damit uns niemand wiedererkennt. - Und mein Gesicht? / Sinn und Unsinn, was heißt das? / ... konnte ich mir das nicht erschließen. Ich blickte zu Alice hinüber.
"Kannst du dir vorstellen, wie sich die Autorin die weiteren Kapitel vorgestellt hat?"
"Nein."
"Außerdem gibt es doch nur einen Erzengel, oder?"
Sie sagte dazu nichts, ich gab ihr das Buch zurück.
"Gibt es ungeschriebene Bücher, die du zur Lektüre empfehlen würdest?"
"Suchst du eher etwas Witziges oder ernste Literatur?"
"Was verstehst du unter ernster Literatur?"
Sie reichte mir ein Buch, welches links neben dem Stapel mit Büchern lag und das ich übersehen hatte.

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Die, die nicht ruhen dürfen

Der Morgennebel zwischen den Bäumen ließ alles in einem unwirklichen gedämpften Licht erscheinen. Deshalb wohl war mir zuerst nichts aufgefallen an der jungen Frau, die ich nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Doch dann begriff ich, dass es nicht nur der Nebel war, ich konnte durch ihren Körpers hindurch, wenn auch undeutlich, den Teil des Busches hinter der Frau sehen, der eigentlich von ihr verdeckt wurde. Mir war klar, dass ich einen Geist sah, trotzdem schreckte ich nicht zurück. Nichts an ihr wirkte bedrohlich. Die Frau trug einfache Kleidung und blickte nun auch zu mir herüber. Niemand sonst war zu dieser frühen Stunde im Park unterwegs, deshalb hatte ich diese Zeit für meinen Morgenlauf gewählt.
Das Gesicht der Frau hatte einen chinesisch wirkenden Schnitt. Langsam näherte ich mich ihr, aus irgendeinem Grund fühlte ich mich von ihr angezogen. Ich war nur unsicher, ob ich sie ansprechen sollte. Die Entscheidung wurde mir abgenommen, die junge Frau fing von sich aus an zu sprechen.
"Du bist die Erste, die mich wahrnimmt, all die anderen sind immer an mir vorbeigegangen, als wäre ich unsichtbar. Macht es dir gar nichts aus, einen Geist zu sehen?"
Ich schüttelte den Kopf.
"Nein, wieso sollte ich mich fürchten?"
"Die meisten Menschen fürchten sich vor Geistern."
Die junge Frau sprach mit starkem Akzent. Ich spürte ihr Bedürfnis zu reden und ihre Erleichterung darüber, jemanden gefunden zu haben, der ihr zuhörte.
"Wieso bist du zum Geist geworden und wieso bist du hier in Japan, an diesem Ort? Du bist nicht von hier, oder?"
"Ich weiß es nicht, dabei wünschte ich mir nur, Ruhe zu finden, aber dazu müsste ich wohl genau das zuerst einmal begreifen. So viel Zeit ist verstrichen und ich erinnere nur wenige Bruchstücke."
"An was erinnerst du dich?"
"Nur an die Begriffe 'Einheit 731' und 'Wasseraufbereitung'. Und an die Angst, die spüre, sobald ich diese Begriffe erinnere."
Ich dachte kurz nach, dann wandte ich mich wieder ihr zu, die langsam im zunehmenden Licht blasser wurde.
"Ich kann schauen, ob ich etwas zu den Begriffen herausfinden kann."
Die Frau nickte noch kurz, bevor ein Windhauch die Nebel vertrieb und mit ihnen das Geisterbild. Ich war allein. Nachdem ich ein paar mal tief durchgeatmet hatte, setzte ich meinen Morgenlauf fort. Vogellärm drang nun durch den Park. An einer Weggabelung rannte ich beinahe einen Frau in meinem Alter um. Ich erkannte sie erst im letzten Moment.
„Hirata-San?“
Sie sah mich nun auch.
„Ukita-San.“
Wir studierten beide im selben Semester, ohne uns wirklich zu kennen. Ich hatte eigentlich kein Bedürfnis nach einer weiteren Unterhaltung, aber bevor ich weiterlaufen konnte, fuhr Hirata bereits fort:
"Ich wohne direkt auf der anderen Seite der Parkmauer im alten Haus meiner Urgroßeltern."
Ich blieb höflich kühl.
"Entschuldige bitte, aber wenn ich zu lange stehen bleibe, kühle ich aus. Wir sehen uns an der Uni."
Damit verabschiedete ich mich. Zu Hause gab ich die Begriffe 'Einheit 731' und 'Wasseraufbereitung' in die Internetsuchmaschine ein und erstarrte einen Augenblick lang. 'Unter der Bezeichnung 'Division für Epidemieprävention und Wasseraufbereitung' organisierten die japanischen Streitkräfte im zweiten Weltkrieg verschiedene Einheiten mit den Aufgaben Biowaffenforschung, Chemiewaffenforschung und Menschenversuche. Die größte Einrichtung dieser Art befand sich in Manchukuo.'
Leicht fand ich weitere Informationen. Doch jetzt hatte ich nicht die Ruhe, ich würde dies alles am Abend durchschauen.
...

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Fast länger als dieses erste Kapitel war die nachfolgende Darstellung des Gesamtkonzeptes des Buches: Der Geist im Park ist der Geist einer der durch die japanische Armee, durch die Einheit 731, auf dem medizinischmilitärischen Versuchsgelände in Manchukuo auf brutale Weise ermordeten Frauen. In den weiteren Kapiteln des Buches muss Teiko Ukita Stück für Stück die Geschichte der Frau, die Gewalt, die sie erfahren hat, aufdecken, von der Gefangennahme, den Haftbedingungen, der Folter, den medizinischen (Bio)Waffenversuchen an Menschen, über Vergewaltigungen, die Geburt eines Kindes bis hin zur Ermordung des Kindes und der Frau in medizinischen Versuchen. Dabei wird parallel die Verwicklung einer Vielzahl japanischer Ärzte und Krankenschwestern deutlich, unter ihnen die Urgroßmutter von Nagori Hirata. Es ist ihr Gedenkstein, der zum Teil des Parks geworden ist, welcher den Geist der jungen Frau hier bindet. Die Verbindung wird deutlich, weil Hirata zum Zeitpunkt dieser Geschichte ihrer Urgroßmutter, die zur Zeit der Tat nur wenige Jahre älter war als sie, zum Verwechseln ähnlich sieht und der Geist der ermordeten Frau auf diese Ähnlichkeit reagiert. Nagori Hirata muss sich der Vergangenheit ihrer Familie stellen, den Taten ihrer Urgroßmutter, die von Eltern und Großeltern bis heute hohe Achtung erfährt. Dies alles wird Stück für Stück, wie in einem Mystery-Roman aufgeblättert, bis der Geist der jungen Frau am Ende Ruhe findet.
Auch dieses Buch gab ich Alice zurück. Sie sah mich an.
"Und, wie findest du es?"
"Ich weiß nicht, um das zu beurteilen, müsste ich es zu Ende lesen."
Sie erwiderte nichts darauf, sondern setzte ihre Arbeit fort. Weitere ungeschriebene Bücher fanden ihre letzte Ruhestätte. Nachdem sie jedoch drei weitere Bücher unter die Erde gebracht hatte, schaute sie wieder zu mir herüber.
"Willst du noch weitere der ungeschriebenen Bücher lesen?
Ich habe hier noch ein Buch über zwei junge Frauen, die früher als Dämonin und als Engel dritter Klasse gearbeitet haben. Die beiden wurden aufgrund von Rationalisierungsmaßnahmen freigestellt und müssen nun zusehen, wie sie zurechtkommen. Beide finden sich als Pizzabotinnen in der Pizzeria Hells Kitchen wieder. Eine weitere junge Frau, die früher ebenfalls als Engel gearbeitet hat und nun für eine Zeitarbeitsfirma im Leasing als Paketdrohne arbeitet, verbringt ihre Mittagspause auch meistens in der Pizzeria. Ab und zu arbeitet die Frau, welche früher Engel dritter Klasse war, als Statistin im Theater, die Nachfrage nach Theaterengeln ist aber begrenzt. Die Beraterin in der Arbeitslosenberatung empfiehlt ihr, eine Ich-AG zu gründen und selbst Göttin zu werden. Ihre ältere Schwester hat sich selbständig gemacht im Optionshandel mit göttlichen Ablaßscheinen.
Die Autorin schreibt, dass das Buch in kurzen Szenen den Alltag der Frauen beschreiben soll. Fast wie eine Serie mit Vier-Bilder-Mangas."

Sie holte kurz Luft, bevor sie weitersprach.

"Außerdem ist hier auch noch ein Buch, das eine Welt ohne Schwerkraft beschreibt. Die Menschen leben auf Brockenwelten, die durch die Luft schweben. Die Brockenwelten sind in allen Richtungen bewohnt, oben und unten existiert nicht. Die BewohnerInnen bewegen sich mithilfe von Luftpaddeln fort, sie müssen nur darauf achten, sich nicht zu weit von ihrer Brockenwelt zu entfernen. Außerdem sind die Brockenwelten mit Propellern versehen, um im Fall drohender Zusammenstöße anderen Brockenwelten ausweichen zu können. Der vorhandene Textanfang beschreibt detailliert, wie das Schlafen, Essen, Waschen, das Wetter und der gesamte Alltag in dieser schwerelosen Welt funktionieren. Das würde aus meiner Sicht aber besser für ein Computerspiel-Szenario taugen, als für ein Buch.
Interessiert dich eins davon?"
Ich schüttelte den Kopf
"Sind die Bücher alle so? Ich habe den Eindruck, sie sind alle für eine ähnliche Leserinnen- und Leserschaft geschrieben."
"Nein, nicht alle, unter den Büchern sind auch ungeschriebene Jugendbücher. Zum Beispiel ein Buch über einen Ort an einem Berghang, der an eine unendlich scheinende Ebene mit fast undurchdringlichem Wald grenzt. Die Jugendlichen in diesem Ort haben die Aufgabe, über den Wald zu wachen. Dazu benutzen sie Hängegleiter, die mithilfe der Aufwinde fliegen können. Die Erwachsenen sind für diese Gleiter zu schwer. Mir ist das aber zu konventionell. Interessanter finde ich ein anderes ungeschriebenes Jugendbuch, das Buch Hauswelt."
Sie reichte mir einen Band mit großer Schrift und Hardcovereinband.

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Hauswelt

Der Junge saß in dem großen Loch, dass irgendwer in die Betonplatte gestemmt hatte, und ließ die Beine baumeln. Unter ihm ging es gut 70 Meter in die Tiefe, von hier aus konnte er die Fischerboote beobachten und rechts blickte er zur Hauswelt hinüber, in der Lina lebte. Diese beiden Häuser waren die letzten, die noch über die Wasserkante hinausragten, abgesehen von den Trümmern eines dritten Gebäudes, welches nur halb zusammengefallen war und als Hafenbecken genutzt wurde. In den Sommermonaten schwamm er dort zusammen mit Lina im Meer. Von allen anderen Gebäuden dieser Stadt, die einmal eines der Zentren der Welt gewesen war, waren nur noch dunkle Schatten unter der Meeresoberfläche zu sehen. Das Meer hatte alles überflutet. Selbst vom Dach des Gebäudes aus, das immer noch mehr als 80 Meter über die Wasserfläche hinausragte, war nichts als Wasser rundherum zu sehen. Die Alten erzählten, dass das Gebäude unter der Wasseroberfläche weitere 19 Stockwerke hatte. Die See war hier mehr als 40 Meter tief.
Früher hatten weitere Hauswelten existiert, aber sie waren beim großen Sturm vor 35 Jahren zerstört worden, kaum jemand von dort hatte überlebt. Doch für den Jungen waren dies alles alte Geschichten, unendlich lange her. Die große Katastrophe in deren Folge die Stadt, wie viele andere auf der Welt, versunken war, hatte sogar vor mehr als 60 Jahren stattgefunden. Und der Junge hatte gerade andere Dinge, an die er denken musste. Er war mit Lina verabredet, dazu würde er die 20 Stockwerke bis zur Wasseroberfläche hinabsteigen müssen und vorher musste er für die Küche ihrer Etage noch Gemüse aus den Balkongärten holen. Früher hatte es angeblich selbstfahrende kleine Zimmer gegeben, mit denen sich die Menschen im Haus von oben nach unten bewegen konnten, heute gab es nur die Treppen und die Leitern, die später eingebaut wurden, um an verschiedenen Stellen von einer Etage in die andere gelangen zu können. Und es gab die Schächte mit den Rutschstangen, aber eigentlich durften die nur von den Erwachsenen benutzt werden.
Die Balkongärten umgaben das gesamte Haus von oben bis unten. Sie waren neben den Fischen des Meeres die wichtigste Nahrungsquelle. Heute musste er bis in den 23. Stock über der Wasseroberfläche hinauf, um einige Kohlköpfe zu holen. Ohne weiter Zeit zu vertrödeln, kletterte er die Leiter von einem Stockwerk zum nächsten empor, er musste noch drei Stockwerke höher. Als er den Balkongarten an dieser Seite des Hauses erreichte, stand die Sonne fast im Zenit. Die Wassersegel, mit denen die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses das Regenwasser einfingen, waren eingezogen. Süßwasser war eines ihr kostbarsten Güter, die großen Zisternen wurden sorgsam gepflegt. Über ihm drehte sich das Windrad. Mit seiner Hilfe konnten Lasten am Seil vom Meeresspiegel bis zum Dach heraufgezogen werden. Der Lastenkran war aus Treibgut erbaut worden.
Nachdem er die Kohlköpfe in der Küche ihrer Wohnetage abgegeben hatte, machte er sich eilends auf den Weg nach unten. Und doch konnte er es nicht lassen, einen kurzen Zwischenstopp in der Etage der Fischverarbeitung zu machen. Neugierig sah er den Erwachsenen zu, die die Fische ausnahmen und zum Pökeln und Trocknen vorbereiteten. Das Salz gewannen sie am Hafen durch das Verdunsten von Mehrwasser mithilfe der Sonneneinstrahlung. Das Trocknen der Fische erfolgte auf einigen sehr weit außen liegenden Balkonen auf dieser Etage. Kurz grüßte er seine ältere Schwester, die hier arbeitete, und die anderen, die er traf. In der Hauswelt kannten sich alle. Doch bald machte er sich wieder auf den Weg.
Im untersten Stockwerk direkt über der Wasseroberfläche war es selbst zu dieser Jahreszeit kühl und feucht. Grade machte er sein Segelbrett klar, als der alte Bibliothekar vorbeischlurfte. Früher, direkt nach der Katastrophe, hatten die Menschen alles getan, um die Bücher, derer sie habhaft wurden, zu retten. Doch mit der Zeit interessierten sich immer weniger Menschen für die alten Schwarten. Viele der Jüngeren konnten weder gut lesen noch schreiben. Wozu auch? Die Bibliothek, die am Anfang in einem der oberen Stockwerke angelegt worden war, wanderte Stück für Stück weiter nach unten und war nun im untersten Stockwerk über der Wasseroberfläche und so bei jeder Sturmflut vom Wasser bedroht. Die Hälfte der Bücher war auf diese Weise inzwischen zu Schaden gekommen oder sogar zerstört worden. Nur der alte Bibliothekar kümmerte sich noch um die Bücher – und Lina. Lina liebte Bücher, die Geschichten über das Festland von früher, über die Wunderwelten. Ihn interessierte das nicht besonders, da Lina aber seine Freundin war, grüßte er den Alten höflich. Lina war der Überzeugung, dass sie die Hauswelten irgendwann würden verlassen müssen, da sie zusammenfallen könnten, wie die anderen vor 35 Jahren, doch ihm schien der Beton sehr stabil zu sein, ausreichend für Jahrhunderte. Er schwang sich auf sein Segelbrett und paddelte nach draußen, er war mit Lina zum Surfen verabredet.
...

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Auf der letzten der beschriebenen Seiten, stand noch eine Kapitelaufteilung: Kapitel 1 bis 3 - Beschreibung des Lebens in der Hauswelt, die alten Bücher in der Bibliothek mit Beschreibung des Lebens früher, Erzählungen über das Festland, Neugier, Aufbruch zum Festland // Weitere Kapitel - Was erleben die Kinder? Wie sieht die Situation auf dem Festland aus?
Ich legte auch dieses Buch wieder auf den Stapel vor Alice, der inzwischen sehr viel kleiner geworden war. Einen Augenblick lang standen wir einfach da und schwiegen, Alice schien für heute mit ihrer Arbeit als Bestatterin der ungeschrieben Bücher zu einem vorläufigen Ende gekommen zu sein, ihr Blick war nach innen gerichtet. Dann sah sie sich mich auf einmal an.
"Was ist, wenn auch wir nur Protagonistinnen einer unvollendeten Geschichte sind und auf Seite 34 im Nichts versinken?"
Meine Augen wanderten erneut zum dunklen Grün des Baumwipfels, einige Lichtstrahlen brachen sich nun dort. Ich spürte ihren Blick und wusste, dass sie auf meine Reaktion wartete. Nach kurzem Zögern antwortete ich:
"Ich kann nur wiederholen, was ich vorhin gesagt habe: Gibt nicht gerade dies uns alle Freiräume, unser Leben selbst zu bestimmen? Wenn das Ende bereits feststünde, was hätten wir dann noch zu entscheiden?"


FIN


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Z.I. - TraumtaucherIn



Unterstadt, 10. April NNNN

Für Kiia,

da Du gefragt hast, ja manchmal wünschte ich mir einen Zusammenhang, Menschen mit denen ich mich im Austausch der Gedanken und Gefühle auseinandersetzen kann über die Dinge, die mir wichtig sind. Nur Liebe, Liebe misse ich nicht. Und Begehren, ich weiß nicht.

Wenn ich Texte lese von Menschen, die meinen zu wissen, was andere Menschen tun müssten, um geliebt zu werden, wundere ich mich in der Regel nur, was das alles soll, beantworten sie doch nicht einmal die selbst gestellte Frage, wie können Menschen bewirken, dass sie anerkannt und geliebt werden als die, die sie sind? Die Texte führen im Gegensatz dazu etwas ganz anderes aus, sie beschreiben, in was ich mich ihrer Ansicht nach verwandeln müsste, um geliebt zu werden. Würde ich die Texte ernst nehmen, müsste ich schlussfolgern, dass ich grundsätzlich nicht liebenswert bin, das bestreiten die Texte aber immer explizit, heißt es doch immer 'jede und jeder ist liebenswert', nur um dann in der Folge genau dies zu verneinen und einzufordern, dass du eine andere werden musst, um Liebe zu finden. Wozu sollte ich das tun? Dann würde doch immer noch nicht ich geliebt, sondern nur diese andere, damit wäre ich keinen Schritt weiter. Ich müsste schon extrem wenig Selbstwertgefühl haben, um so einer Zumutung zu folgen und mich selbst auszulöschen, um dann eventuell für diese Selbstauslöschung Bestätigung zu erhalten.

Liebe heißt für mich, die andere bzw. den anderen zu unterstützen bei dem, was ihr wichtig erscheint, was sie oder er erreichen will, was sie sein will, unabhängig davon, ob dies meine Ziele sind. Natürlich kann ich Kritik üben, nur im Zweifelsfall, falls ich merke, ich bin nicht hilfreich, würde ich zurücktreten. Macht doch das, was sie wollen, die Menschen in ihrem Kern aus. Im Fall, das ich ein Hindernis für sie bin, würde ich sie allein lassen und das Risiko, sie zu verlieren, hinnehmen. Auch dort, wo dies bedeutet, das ihnen die Beziehung zu anderen wichtiger ist. Will ich doch, dass diejenigen, die ich liebe, so leben können, wie sie leben wollen.

Deshalb verstehe ich auch umgekehrt Menschen nicht, die behaupten, ich würde ihnen etwas bedeuten oder gar, sie würden mich lieben, und die mich im selben Atemzug nur für Sachen loben, die völlig irrelevant sind, oder gar für Sekundärtugenden 'Du bist so zuverlässig'. Während sie für die Dinge, die mir wichtig sind, nur Ignoranz übrig haben. Teils wird es ihnen bereits nach wenigen Minuten zu anstrengend zuzuhören, wenn ich über das erzähle, was mich interessiert. Sie missachten durch ihr Reden und Handeln alles, was mich im Kern ausmacht. Ihr Lob ist vergiftet, ist es doch darauf ausgerichtet, mich dazu zu bringen, noch mehr Zeit und Aufwand in irrelevante Nebensächlichkeiten zu stecken, versuchen sie doch, mich mit den Bleigewichten dieses Lobes zu hindern, von ihrem Bild von mir, das nichts mit mir zu tun hat, abzuweichen und meine eigenen Ziele zu verfolgen. Ich halte es für sinnvoll und richtig solche Menschen abzuweisen, eine klare Trennung zu vollziehen, selbst um den Preis einer neuen Feindschaft, falls sie auf Distanzsetzungen nicht reagieren.

Liebe heißt für mich, mich nicht anpassen zu müssen, um Liebe muss ich nicht buhlen, ich will nicht für Nachahmung und Anpassung 'geliebt' werden, Liebe heißt für mich, dass du die sein kannst, die du bist. Wer dich umformen will, liebt nicht dich, nur ein Abbild seiner Phantasie, das er auszufüllen sucht, du bist für ihn nur Verfügungsmasse.

Und, was das Begehren angeht, weiß ich häufig selbst nicht, was ich will, nur, was ich nicht will. Auch hier frage ich mich häufig wozu? Nicht, dass ich es grundsätzlich unangenehm finde, begehrt zu werden, nur, um mich einzulassen, sind mir die meisten Menschen zu entfernt. Da wir in der Regel nicht die gleiche Körpersprache sprechen, müssten wir auch erst lernen, die Körpersprache des beziehungsweise der anderen zu entziffern, dies würde aber das Fassen des eigenen Begehrens in Worte voraussetzen. Was für die meisten in dieser Gesellschaft tabu zu sein scheint. Sicher ich könnte mich auch einfach fallen lassen. Nur da lande ich wieder beim 'Wozu?' Und außerdem will ich mich nicht fassen lassen, nicht festlegen lassen, was ich bin.

Manchmal stelle ich mir vor, in einer anderen Welt, wäre dies anders. Dies ist auch der Grund aus dem mich die alte Frau, die ich gestern traf, und das, was sie sagte, nicht los lässt.

Weiter zum Stadtrand hin, fast am Ende der Nordstraße, gibt es ein kleines Kellergeschäft, halb Antiquariat, halb Trödelladen. Im Schaufenster erweckte ein Buch mit dickem Einband, noch in Fraktur gedruckt, meine Aufmerksamkeit 'Traumtauchen, Anleitung für eine alte Kunst'.
Als ich eintrat kam mir die alte Frau im Halbdunkel zwischen den Regalen mit Büchern, altem Geschirr, Uhren und Stapeln alter Zeitschriften entgegen. Sie hatte wohl mein Interesse an dem Buch bemerkt und sprach mich darauf an: "Sie interessiert das Buch?" Ich nickte nur. "Ich packe es ihnen ein. Doch passen sie auf sich auf, falls sie die Anleitungen daraus nutzen, Traumtauchen ist nicht harmlos. Manch eine ist aus den Traumwelten nicht zurückgekehrt. Sie dürfen nie länger als 25 Stunden in der Traumwelt verweilen. Freilich finden sie diesen und weitere Hinweise auch im Buch. Beachten sie was dort steht." Dann erzählte die Alte noch mehr, dass früher Traumtauchen viel verbreiteter und dass die Schwester ihrer Großmutter eines Nachts nicht wiedergekehrt war.

Ich musste 33,- Euro bezahlen und weiß bis jetzt nicht, ob das Buch dies tatsächlich wert ist. Die Anleitung im Buch soll es dir ermöglichen, folgst du ihr, Träume real aufzusuchen. Dabei geht es nicht um die eigenen Träume, sondern nach dem Buch existieren die Traumwelten auch unabhängig von den Träumenden. Ich werde dies später noch ausprobieren und Dir im nächsten Brief berichten.

Ich hoffe Du hast Dich eingelebt und kommst zu dem, was Du wolltest.

Auf bald, ich vermisse Dich.

Taru

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Unterstadt, 30. April NNNN

Für Kiia,

die Traumwelt war überwältigend und ich habe dies zugelassen, wörtlicher als Du das vermutlich im Moment des Lesen dieser Zeile interpretierst. Indes entschuldige, ich greife dem, was ich Dir schreiben wollte, vor. Bitte entschuldige auch, dass ich nicht sofort geschrieben habe, ich wollte Dich nicht beunruhigen, wusste zuerst jedoch nicht, was dies wirklich mit mir macht und was ich Dir davon mitteilen will.

Ich habe sorgsam alle Anweisungen ausgeführt, die im Buch beschrieben waren, um in die Traumwelt übergehen zu können, und der Übergang war leichter als ich erwartet hatte. Trotzdem oder gerade deshalb war ich doch sehr überrascht plötzlich in dieser mir fremden Welt aufzuwachen.

Um mich herum war ein dunkler Wald, ich lag jedoch im Gras auf einer Lichtung und mein Körper war der einer Frau. Aus irgendeinem Grund kam mir das aber völlig natürlich vor, obwohl diesen Körper zu fühlen mich gleichzeitig verunsicherte. Ich trug ein Kleid und Schuhe in denen ich Schwierigkeiten hatte auf der Wiese beim Gehen nicht umzuknicken. Du weist, dass ich, die beziehungsweise der als Mann lebt, mir manchmal vorgestellt habe, wie es wäre als Frau zu leben und deshalb für Teile meiner Briefe den Namen Taru nutze. Nur hatte ich nicht erwartet, dass dies in der Traumwelt Wirklichkeit werden würde. So waren mir meine Gefühle unklar und ich bekam nicht die Zeit nachzusinnen. Noch bevor ich richtig begriff, was dies für mich bedeutete, trat eine Schar riesiger Wölfe aus dem Wald. In meinem Kleid und mit den Schuhen hatte ich keine Chance ihnen zu entkommen, als sie sich zu mir umwandten. Ich versuchte auf einen Baum zu klettern, stolperte jedoch und fiel, doch in dem Moment in dem ich aufgeben wollte, ließ ein Geräusch die Wölfe aufhorchen. Gleich darauf schlug ein Armbrustpfeil direkt vor dem größten der Wölfe in das Holz eines umgestürzten Baumes ein. Die Warnung reichte, um die Wölfe zu vertreiben.

Kurz danach sah ich den Schützen, ein junger Mann etwas älter als ich, schlank und unaufdringlich gekleidet, kam aus dem Wald auf mich zu, hinter sich führte er ein Pferd am Zügel. Er reichte mir die Hand und half mir auf. "Seid Ihr verletzt?" "Nein." Sein Blick streifte das Dunkel des Waldes. "Wir sollten diesen Ort lieber verlassen." Er schwang sich auf sein Pferd und half mir hinter ihm aufzusitzen. "Ihr müsst Euch gut festhalten, habt keine Scham mich zu umschlingen." Nun erst wurde mir die Situation voll bewusst, nur welche andere Möglichkeit hatte ich. Mir blieb keine Möglichkeit als mich während des Rittes an ihn zu schmiegen. Bald erreichten wir zum Glück ein kleines Dorf und eine Herberge. Nur war damit die Peinlichkeit nicht vorbei, hatte ich doch weder Geld noch Kenntnis der lokalen Sitten. Doch den Ritter, nenne ich ihn einmal so, schien dies eher zu amüsieren, er zahlte ein Zimmer für mich und ließ mir ein Bad anrichten. Dankbar nahm ich es an. Danach saßen wir noch zusammen auf der Terrasse der Herberge und tranken Wein. Und so kam eins zum anderen, irgendwie wollte auch ich es. Wir verbrachten die Nacht in seinem Zimmer.

Die Gefühle kann ich schwierig beschreiben, ich weiß nicht wirklich, wieso ich mich auf sein Begehren einließ. Ich ließ mich einfach fallen und absurder Weise kamen mir danach die Tränen, gleichwohl nahm er dies nicht böse auf, im Gegenteil, er ließ mir den Raum für meine Erschütterung und nahm mich in die Arme. Wir wachten noch zusammen auf, doch dann verließ ich den Traum. Ich hoffe, ich habe ihn nicht verletzt.

Erst Zuhause fiel mir die Frage ein, ob ich im Traum schwanger werden könnte? Kurz machte ich mir Sorgen und schalt mich leichtsinnig. Nichtsdestotrotz war dies nachrangig, viel stärker fragte ich mich, wer oder was ich bin, beziehungsweise sein will? Und gleichzeitig spüre ich das Begehren, erneut die Welt aufzusuchen, um ihn erneut zu treffen und den Widerstand, den dieses Gefühl bei mir auslöst.

Ich hoffe Du verachtest mich nicht dafür? Er war attraktiv und mir zugewandt und die Situation war für mich ungewöhnlich, aber das hört sich alles so klischiert an. Der Grund aus dem ich dies zulassen konnte ist glaube ich, dass alles in der Traumwelt stattfand und ich wusste, ich kann sie jederzeit wieder verlassen und werde nicht lange dort sein. Ich hatte Dir ja im letzten Brief geschrieben, das auch das sich fallen lassen eine Möglichkeit ist. In der Traumwelt musste ich mir keine Gedanken um die Folgen machen.

Vielleicht sehen wir uns ja im August, ich würde mich freuen.

Tatu

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Unterstadt, 11. Mai NNNN

Für Kiia,

Danke für Deine an mich gerichteten Worte über meine Unsicherheiten. Und, um Deine Frage zu beantworten, ja ich war wieder in der Traumwelt. Nur diesmal bin ich zuerst in einer anderen Welt erwacht. Ansich wollte ich in die mir schon bekannte Traumwelt reisen, um mich zu vergewissern, was ich wirklich empfinde, was ich begehre, jedoch war ich wohl bei der Ausführung der Anweisungen zur Traumreise etwas unaufmerksam.

Der Ort an dem ich aufwachte war bedrückend, eine nicht enden wollende Küche voller Gegenständen, die wie Chimären der unterschiedlichsten Haushaltsgeräte aussahen aber durchmischt mit einzelnen Teilen menschlicher Körper. Da gab es den Handfegermixer mit Staubsaugerbeutelanhang, und Augen, welche durch mich hindurch blickten, das Waschbecken mit Kühlschranktür, einem Arm und einem Stück Bauch, eine Eier schlagende Küchenuhr mit Nase und schiefen Mund und viele weitere Küchenchimären. Und alle schienen, ohne ihre Außenwelt zu beachten, ohne Pausen, ohne Freude und ohne, dass ihr Tun irgendeinen Sinn machte, vor sich hin zu arbeiten. Das einzige, was auffällig anders aussah, war ein Haufen mit Kanonenkugeln.

Aber bevor ich ihn näher untersuchen konnte, sprach mich unvermittelt eine Frau in meinem Alter an, sie hatte statt Armen und Händen Handfeger und Kehrblech. Ich hatte sie bis dahin nicht bemerkt. "Du musst dich vor der Waschmaschine in Acht nehmen." "Wieso?" "Beeile dich, dahinten kommt sie." Trotz ihrer Warnung erreichte mich die Waschmaschine bevor ich mich auf einen Tisch in Sicherheit gebracht hatte und biss mir einen Fuß ab, da mein Bein noch über die Tischkante hinausragte. Erstaunlicher Weise spürte ich keine Schmerzen und an Stelle des Fußes wuchs mir ein Wischmob. Die Frau, die mich angesprochen hatte, fegte inzwischen, sich auf Knien fortbewegend, den Müll auf, den die anderen Gegenstände produzierten, deshalb hatte ich sie wohl zuerst auch übersehen. Erst nach einer Weile wandte sie sich wieder mir zu. "Alles, was die Waschmaschine an Körperteilen frisst, wird durch Teile von Haushaltsgeräten ersetzt," sie fegte wieder eine Runde bevor sie weiter sprach, "ein ganz Teil der Gegenstände hier sind Traumreisende, die es nicht geschafft haben, sich vor der Waschmaschine rechtzeitig in Sicherheit zu bringen und die dann von ihren Gegenständen langsam übernommen wurden. Das ist das Schicksal aller, die Gegenstände bestimmen Stück für Stück immer stärker unser Fühlen und Denken. Ich glaube die wenigsten erinnern sich noch ihrer Vergangenheit." Dann wandte sie sich wieder ab. "Entschuldigung, ich habe noch viel zu tun."

Einen Augenblick verspürte ich das Gefühl ihr beim Putzen helfen zu müssen und den Boden, dort wo sie gefegt hatte, nachzuwischen, dies war nur ein kurzer Gedanke, und doch reichte er aus um mich zutiefst zu beunruhigen, ich wollte auf keinen Fall zum Wischmob werden und suchte nach einem Ausweg. "Und was machen die Kanonenkugeln dort?" Ich zeigte auf den Haufen mit mindestens 10 Kanonenkugeln, der zum Anfassen nahe bei uns lag. "Die müssen aus einer anderen Traumwelt stammen." Ich versuchte eine der Kugeln anzuheben, doch sie war zu schwer, rutschte mir weg und fiel mit Wucht direkt vor mir auf den Boden. Ein schwarzes Loch tat sich auf, eine Fluchtmöglichkeit. Ich versuchte meine Leidensgefährtin zu überzeugen, mich zu begleiten, doch sie schüttelte nur den Kopf. "Hier ist noch soviel Schmutz, ich kann die Küche nicht in diesem Zustand zurück lassen." Ich konnte sie trotz wiederholter Versuche nicht umstimmen, mir blieb nichts als mit schlechten Gewissen alleine zu fliehen.

Hoffend, diesmal die Traumwelt zu erreichen, in der ich bei meiner ersten Reise aufgewacht war, ließ ich mich durch das Loch im Traum ins Nichts fallen.

Wie die Zielbestimmung beim Reisen in den Traumwelten funktioniert weiß ich nicht. Dessen ungeachtet kam ich aber kurz darauf in der mir schon bekannten Traumwelt zu Bewusstsein, über mir gebeugt sah ich das besorgte Gesicht des Mannes mit dem ich bei meiner ersten Reise die Nacht verbracht hatte. Mir stockte kurz der Atem, erleichtert spürte ich meine beiden Füße, die Küchenwelt war nur noch ein ferner Traum, gleichwohl brauchte es noch eine Weile bis mich die Bedrückung, die die Küchenwelt bei mir ausgelöst hatte, verließ.

Als der Mann merkte, dass ich aufgewacht war, sprach er mich an: "Ihr lagt ohnmächtig auf der Schwelle meines Hauses. Die Magd hat euch gefunden. Ich hoffe Ihr nehmt mir nicht übel, das ich Euch in dieses Zimmer getragen habe?" "Nein, ich bin euch schon wieder verpflichtet." "Ihr solltet zuerst etwas essen, bevor wir die Unterhaltung fortsetzen." Auf einem kleinen Tisch standen frische Speisen und ein Krug mit Apfelmost und kaltes klares Wasser. Ohne weiter zu zögern griff ich zu, ich bemerkte erst jetzt, wie hungrig ich war. Der Mann sah mir zu. Danach zeigte er mir sein Anwesen, ein kleines Rittergut. In der Nacht lagen wir wieder beieinander. Ich muss eingestehen, das dies wesentlich von mir ausging. Die Nacht über verlor ich mich erneut in seinem Begehren. Als ich am Morgen erwachte war er schon auf, diesmal verabschiedete ich mich mit einer Umarmung.

Sind alle Männer derart, oder verhalten sie sich dergestalt nur im Traum? Du wunderst Dich über die Frage, da ich doch selbst ein Mann bin, zumindest in dieser Welt als solcher lebe. Dabei wusste ich noch nie wirklich, was das ausmachen soll und ich finde es ziemlich unsinnig, wenn mich andere anzugreifen versuchen, indem sie meine Männlichkeit in Frage stellen. Ich nehme das meist sogar als Lob war, für meine Nichtanpassung, mein subversives Sein. Nur gerade dies steht in Frage, habe ich es doch genossen mich zu verhalten, vielleicht nicht wie es einer Frau geziemt, aber doch wie es zu den Erwartungen an eine Frau passt. Ja, ich habe dies sogar herbeigeführt, indem ich ihm die aktive Rolle überlassen habe. Zum Teil weil ich nicht wirklich weiß, was ich will, und es das einfachste war, aber gleichzeitig auch ein Stück weit, weil ich das wollte. Daran ist aber nun nichts subversiv. Ich habe wohl eher klischiert agiert. Das Erleben von Sexualität in dieser Situation hat mich verunsichert, und doch erfüllte dies mein Begehren. Fühlst du dich als Frau dabei immer so verletzlich? Und warum fliehst du es dann nicht? Will ich dies wirklich? Was wäre, wenn ich ihm hier und nicht in der Traumwelt begegnet wäre?

Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Nochmal Danke, dass Du mit mir soviel Geduld hast und ich bin mir, wie Du merkst, bis jetzt nicht sicher, was ich will, oder wollen sollte? Ich freue mich immer Deine Briefe zu lesen, ich hoffe Dir sind meine Briefe keine Last?

Taru aka Tatu

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Unterstadt, 5. Juni NNNN

Für Kiia,

ich bin nicht wieder in die Traumwelt gereist, stattdessen habe ich einen Ausflug an die Küste gemacht. Da es ein regnerischer und stürmischer Tag war hatte ich das Meer für mich allein. Der feuchte Wind störte mich nicht, ich saß dort eine ganze Weile und blickte auf die Wellen.

Was will ich? Wozu lasse ich mich überhaupt darauf ein? Was soll das ganze? Vielen Menschen würden diese Fragen vermutlich unverständlich erscheinen, ist doch diese Bezogenheit auf den oder die andere für sie ein Teil ihrer Art zu Sein. Ohne dies fühlen sie sich unvollständig. Nur wieso? Eine Antwort ist dies nicht.

Ich fühle mich hingegen nur ganz bei mir, wenn ich alleine bin. Was im wesentlichen darin begründet liegt, dass das Fremdbild der anderen von mir stark abweicht von dem wie ich bin, nicht nur bezüglich des Geschlechts. Und sie sind meist nicht bereit ihre Wahrnehmung in Frage zu stellen, da sie doch der Norm entspricht. Inzwischen interessiert mich das nicht mehr. Ich lasse ihnen ihre Welt und setze die notwendigen Distanzen.
Die ignorantesten Erzählungen, die massivsten Versuche dich zu überschreiben, gehen dabei von denen aus, die behaupten, dir nahe zu sein, dies aber nie wirklich waren, die für die du schon immer ein Abziehbild ihrer Selbst gewesen bist, Eltern und Geschwister sind hier zuvorderst zu nennen, gleichwohl sind sie nicht alleine, Bekannte, die meinen dich zu kennen, gehören teils auch in diese Kategorie. Mit der Realität haben Erzählungen von Eltern über ihre Kinder meist kaum etwas zu tun.

Häufig bemerken sie es nicht einmal und wundern sich dann über deine Reaktion auf ihre Feindschaftserklärung. Sie handeln einfach entsprechend der gesellschaftlichen Norm und nehmen selbst dies gar nicht als Gewalt wahr. Und doch überrascht mich die Ignoranz mit der diese Menschen der Konsequenz ihres Tuns gegenüber stehen immer wieder, ihr nicht Begreifen des von mir ausgehenden Bruches mit ihnen.

In einer Beziehung mit mir müsste die oder der andere akzeptieren, dass ich bestimme, wer und was ich bin. Natürlich ist es legitim, die andere hinzuweisen auf Widersprüche zwischen ihrem Handeln und ihrem von ihr benannten Sein, nur sagt dies nichts über ihr Sein aus, bloß dass sie sich nicht immer konsistent verhält.

Selbst dort, wo ich nicht weiß, was ich bin oder will, weiß ich doch, was ich nicht will.
Diesmal bleibt der Brief kurz, ich habe Angst Dich mit meinen Gefühlen zuzuschütten. Bitte sag, wenn es Dir zuviel wird.

Taru aka Tatu

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Unterstadt, 30. Juni NNNN

Für Kiia,

ich habe das Traumreisen doch wieder aufgenommen, aber ihn habe ich nicht aufgesucht. Ich glaube es war gerade das Wissen um die Flüchtigkeit, welches mir ermöglichte mich in seinem Begehren zu verlieren. Nicht, dass ich ihn auf einmal widerlich finde, im Gegenteil, ich vermisse ihn mit einem Teil meiner Gefühle und vielleicht werde ich ihn irgendwann mal wieder besuchen. Nur will ich mich nicht festlegen.

Und doch, jedesmal, wenn ich im Traum aufwache, erwache ich als Frau, niemals als Mann. Ich bereiste unterschiedliche Traumwelten, spielte mit einem Drachen Reimspiele, aß in einer Taverne mit einer Heldin, die ich durch Zufall beim Einkaufen traf und die es Leid war immer Prinzessinnen retten zu müssen und die mich zuerst für eine solche gehalten hatte, und diskutierte mit ihr, wozu Liebe und Begehren eigentlich gut sind? Wir sind aber zu keinem Ergebnis gekommen.

Einmal an einem fernen Ort habe ich mich auch als Frau mit einer anderen Frau in einer intimen Situation wiedergefunden. Sie war mir sehr zugewandt und doch war ich zutiefst verunsichert. Ich bin vor Scham fast im Bett versunken. Ich glaube, dies lag daran, dass wir beide Frauen waren und jede den Körper der anderen zu gut kannte. Insbesondere im Vergleich zum Zusammensein mit ihm, meiner ersten Traumbegegnung, war ich hier nicht in der Lage, die Distanz aufrecht zu halten. Im Zusammensein mit ihm war es für mich als Frau leicht gewesen, mich nicht fassen zu lassen, hier war dies unmöglich. Ich konnte kein Begehren zulassen. Nach kurzer Zeit bemerkte sie mein Zögern, gab mir noch einen Kuss und bereitete eine Schlafstelle im Nachbarzimmer für mich vor. "Ich glaube, das macht keinen Sinn." Sie ließ mich ausschlafen und dann frühstückten wir noch zusammen. Zum Abschied nahm sie meine Hand. "Falls du dir irgendwann sicher bist, was du willst, kannst du gerne wiederkommen."

Du merkst, so richtig weiß ich noch immer nicht, wohin ich will. Wieso bin ich so kompliziert?

Ich freue mich darauf, Dich bald zu sehen.

Taru


FIN


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N.N. - AMAHINA (Als ich aufwachte, befand ich mich im Maschinenraum des Himmels und sollte die Schrauben nachziehen



Als ich aufwachte

Es war keine zwei Wochen her, dass ich gestorben war. Ich konnte mich noch deutlich an den LKW erinnern und an den Gesichtsausdruck des Fahrers, dieser Idiot. Und jetzt lief ich hier durch diese endlosen halbdunklen Tunnel und musste die Rohre auf Rost abklopfen und sich lockernde Schrauben nachziehen.
"Was soll das?"
Rumiko zuckte nur mit den Schultern.
"Das ist unser Job, so ist das."
"Aber ich bin tot."
"Da hast du zwar recht, aber das ändert nichts, wir sind alle tot. Und du weist was passiert, wenn du dich weigerst."

Ich erinnerte mich zurück an den Tag an dem der LKW-Unfall passiert war. Kurz darauf hatte ich mich auf einmal hier befunden. Zuerst hatte ich alles für einen Traum gehalten. Rumiko hatte mich empfangen und mir das kleine Kabuff mit den zwei Hochbetten gezeigt, in denen die vier Mitglieder unserer Wartungseinheit untergebracht waren, in einer Nische eine rostige Dusche und ein Clo. Dann hatte sie mich in meine neuen Aufgaben eingewiesen.
"Unsere Einheit, die Wartungsbrigade AC89 ist zuständig für die Kilometer GA652,4 bis GB673,8 der Mannarohre. Der Kern unserer Aufgaben besteht darin, die Rohre zu kontrollieren, Schrauben nachzuziehen, Rost abzuklopfen und undichte Stellen auszubessern."
"Aber wie komme ich hierher? Was ist das hier überhaupt? Ich dachte ich bin gestorben."
"Du bist verstorben, dass ist der Himmel. Du siehst doch, dass du einen Heiligenschein hast."
"Und wieso muss ich dann hier Rohre warten?"
"Du bist ein Wartungsengel und das ist dein Job."
Shika, die etwas kleiner als ich war und rote Haare hatte, und ebenfalls zur Wartungsbrigade AC89 gehörte, wies mit den Augen nach oben.
"Wir müssen die Drecksarbeit machen, damit die Mitglieder der himmlischen Ausbeuterklasse nicht selbst arbeiten müssen."
"Und wenn ich mich weigere?"
"Der Heiligenschein ist mit einem Trackingdevice versehen. Und wenn Du versuchst zu fliehen, sendet er Stromstöße aus. Zusätzlich wird überwacht, dass du täglich die vorgesehen Rohrkilometer abgehst."
Shika spuckte auf den Boden.
"Trotzdem sollten wir zumindest versuchen, uns zu wehren. Ohne, das wir etwas tun, ändert sich gar nichts. Wir müssen unsere Fesseln sprengen und Gott stürzen. Die Revolution ist die einzige Alternative."
Namiko, die sich meist im Hintergrund hielt und das vierte Mitglied unserer Brigade war, winkte mit der Hand ab.
"Wie willst du eine Revolution mit vier Personen durchführen?"
"Willst Du die ungerechte Verteilung der von uns produzierten Güter weiter hinnehmen?"
"Welche Güter, wir warten doch nur die Mannapipeline, niemand scheint zu wissen, wo das Zeug herkommt."
"Von unten." Rumiko wies zum Boden des Schachtes.
"Ja aber wer produziert das?"
Keine wusste eine Antwort.

Zu Essen gab es jeden Tag eine Schüssel Manna und zu Trinken Wasser und alle 10 Tage bei Erfüllung des Plansolls Milch und Honig. Dies war nun seit fast zwei Wochen mein Leben, oder richtiger mein Tod, schließlich war ich ja bereits verstorben, wie Rumiko richtiger Weise festgestellt hatte. Am liebsten wäre ich einfach im Bett liegen geblieben. Nur es half alles nichts, heute mussten wir noch 5 Kilometer Rohre kontrollieren, falls wir unser Pensum nicht erfüllten, würde uns unsere wöchentliche Milch und Honig Ration gekürzt. Und nur von Manna zu leben war zwar möglich, aber ich hatte das Zeug schon nach den wenigen Tagen, die ich hier war, über. Selbst mit Milch und Honig war die Ernährung nicht sehr abwechslungsreich. Sehnsüchtig dachte ich an den gebratenen Fisch zurück, den ich am Tag vor meinem Tod gegessen hatte, als auf einmal ein seltsam rollendes lauter werdendes Geräusch zu hören war und dann ging alles sehr schnell, Teile des Stollens brachen weg und ich spürte noch das ich fiel.

"Satsuki! Satsuki!" Eine Stimme rief mich bei meinem Namen. Mein Kopf schmerzte, als hätte ich Wochen durchgefeiert und viel zu viel getrunken. "Satsuki!" Erst jetzt erkannte ich Shikas Stimme. Als ich die Augen aufschlug, saß sie neben mir. "Mein Kopf schmerzt." Sie grinste. "Das sind die Folgen der Stromstößen, weil wir uns zu weit vom Schacht entfernt haben. Nachdem wir gefallen sind, haben die Heiligenscheine offensichtlich die Verbindung zur Kontrollstelle verloren, dann werden normaler Weise solange Stromstöße ausgeteilt, bis sich der Wartungsengel zurück in den zugewiesenen Schachtbereich begibt. Nur das uns das nicht möglich war. Inzwischen hat es allerdings aufgehört, da die Stromstöße viel Energie verbrauchen und die Akkus überlastet haben. Also sei froh, dass du solange bewusstlos warst."
Erst jetzt fiel es mir auf, dass die Heiligenscheine nur noch ganz schwach leuchteten. Rumiko und Namiko unterhielte sich etwas weiter abseits, alle schienen den Fall gut überstanden zu haben.
"Was ist passiert?"
"Der Boden zu einem der Lüftungsschächte ist weggebrochen und wir sind in einen Schacht unter unserem gestürzt."
Auch in diesem Schacht verlief ein Mannarohr, ob es dasselbe war, das wir warteten, war nicht zu erkennen.
"Und wie kommen wir nun zurück?"
"Wieso willst du zurück? Wir haben uns gerade darauf geeinigt, das wir dem Rohr folgen um herauszufinden, wo das Manna herkommt. Aber wenn du zurück willst, musst du einfach immer nach oben laufen."
"Nein, ich schließe mich euch an."

Immer weiter führte unser Weg nach unten, das Rohr und die Gänge schienen sich unendlich hinzuziehen. Rohr und Schacht, Rohr und Schacht nichts änderte sich über viele Kilometer. Ich spürten, das meine Kräfte nachließen. Shika trat gegen die Wand des Schachts.
"Das macht doch keinen Sinn, wer weiß, wo das endet. Wir laufen schon Stunden und es folgt nur Gang auf Gang."
Gerade wollte ich etwas erwidern, als wir hinter einem Knick auf einmal auf einer matschigen Wiese standen, die in einer riesigen Höhle lag, deren andere Seite nicht zu sehen war. Über uns eine glänzende Kuppel und vor uns, soweit das Auge reichte, Wiesen, Buschwerk und matschige Trampelpfade und, es war Namiko die sie zuerst sah, Kühe.
"Was ist das?"
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Auch Rumiko und Shika waren sichtlich fassungslos. Nur Namiko schien das ganze nicht aus der Ruhe zu bringen.
"Eine Kuhweide."
Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, rannte auf einmal eine Elfe mit einem Schmetterlingsnetz an uns vorbei. Die Elfe war vom Körperbau her leichter und zarter als ich, aber nicht wirklich kleiner. Hinter ihr folgte etwas langsamer eine zweite Elfe, die erschöpft und verzweifelt wirkte, und sehr jung aussah. Tränen liefen ihr herab. Ich fühlte Mitleid mit ihr.
"Brauchst Du Hilfe?"
"Wir müssen die Kuh dahinten einfangen, aber die Schmetterlingsnetze gehen immer wieder kaputt und uns fehlt inzwischen bereits das Material sie zu reparieren."
"Warum fangt ihr Kühe mit Schmetterlingsnetzen?"
"Damit sie gemolken werden können. Das Einfangen ist unsere Arbeit."
"Aber wieso Schmetterlingsnetze?"
"Das war schon immer so."
"Wie lange bist du schon hier?"
"Ich weiß nicht mehr, ich habe aufgehört die Jahre zu zählen."
"Wieviele Kühe hast du bisher gefangen?"
"In der Zeit, in der ich hier bin, keine Kuh, aber wir optimieren kontinuierlich unsere Arbeitsweise."
Ich schaute kurz zu den anderen, die zustimmend nickten.
"Wir helfen dir."
Tatsächlich gelang es uns allen zusammen die Kuh einzufangen und an einem Ort festzuhalten. Kaum hatten wir das geschafft, stieß die ältere Elfe einen Pfiff aus und gleich darauf kamen mehrere Melkschemel, die Milchkannen hinter sich herzogen, gerannt. Ohne weiter auf die Elfen oder uns zu achten begannen die Melkschemel die Kuh zu melken.
"Das sind göttlich beseelte Melkschemel, sie sorgen für die Milchversorgung des Himmels."
Die Bemerkung kam von der älteren Elfe, die die fragenden Blicke von Shika und mir bemerkt hatte. Bald schon waren die Melkschemel fertig und verschwanden mit den nun vollen Milchkannen. Das ging so schnell vor sich, dass mir nicht klar war, wohin sie verschwunden waren. Die jüngere Elfe blickte glücklich zu uns herüber.
"Das ist das erste mal, dass ich eine Kuh gefangen habe."
Die Ältere fing nun auch an zu reden: "Früher ist das öfter passiert, aber das ist lange her. Meist kommen die Kühe auch von sich aus zum Melken. Die Melkschemel würden auch ohne uns zurechtkommen. Dabei gibt es Gerüchte, dass es eine Zeit gab, wo die Melkschemel noch nicht einmal selbst melken konnten und die Elfen diese Arbeit erledigen mussten. Aber heute fangen wir nur noch die Kühe ein, die sich zu weit entfernen, theoretisch zumindest."
Die Jüngere ergänzte mit leiser werdender Stimme: "Wir brauchten mehr Materialien um die Netze zu reparieren, dann ginge es sicher besser."
Ich fragte mich, ob Schmetterlingsnetze überhaupt das passende Werkzeuge waren, wollte dazu aber nichts sagen und außerdem brannte mir eine andere Frage auf der Zunge.
"Wisst Ihr, wo das Mannarohr herkommt?"
Die Elfen blickten auf das Rohr und zeigten auf einen dunklen Punkt in einiger Entfernung am Rand der Kuppel: "Das Rohr kommt dort von unten aus einem Tunnel."
Nachdem die Elfen uns dort hingebracht hatten, verabschiedeten sie sich von uns, doch bevor wir aufbrachen überließen sie uns noch eine große Portion Manna und Milch in kühlen Krügen. Alle griffen dankbar zu, nur Namiko trank Wasser, sie mochte keine Milch.

Bald darauf brachen wir wieder auf und nach kurzer Zeit befanden wir uns abermals alleine im Tunnel. Jedoch nicht wirklich alleine, eine Kuh mit schwarzem Fleck auf der Nase lief uns nach. Rumiko sah zu ihr hinüber.
"Sie wird schon irgendwann von selbst zurücklaufen."
Doch sie folgte uns immer weiter. Und wir folgten dem Rohr der Mannapipeline. Nach einer Weile stieß ein weiteres Rohr, das auch von oben aber aus einer anderen Richtung als wir kam, zum ersten Rohr hinzu, und dann ein weiteres und noch eins, langsam wurden es immer mehr Rohre, die alle aus unterschiedlichen Richtungen von oben kommend zu einem Bündel zusammenliefen. Die Lichtverhältnisse im Stollen, der immer weiter nach unten führte, wurden zunehmend schlechter. Die Kuh mit dem schwarzen Fleck auf der Nase, die immer noch hinter uns her lief, schien dies aber nicht zu stören. Irgendwann, wann genau wusste keine zu sagen, begannen wir den Gesang zu hören, zuerst war er nur ganz leise und kaum als Gesang zu identifizieren, doch je weiter wir gingen, um so deutlicher und lauter wurde er: "Mannamana Manamananna Mannamana Manannana".
Und dann tat sich auf einmal vor uns ein gigantischer unterirdischer Felsendom auf.

Am oberen Ende vereinigten sich alle von oben kommenden Rohre zu einer einzigen gigantischen Röhre. Diese gigantische Röhre verlief in der Mitte dieses unterirdischen Bauwerks senkrecht nach unten. Um die Pipeline herum waren Ebenen errichtet auf denen Zwerge eine Art waagerechter Räder, die um die Mannaröhre herumgelegt waren, in gemeinsamer Anstrengung mit ihrer Körperkraft drehten, indem sie sich gegen die nach Außen hervortretenden Speichen der Räder stemmten und gemeinsam langsam im Kreis voran schritten. Ab und an erschlaffte einer der Zwerge und fiel in die Tiefe, die andere beachteten dies aber nicht und der Zwerg wurde sofort von einem anderen ersetzt, der über einen seitlich an den Ebenen angebrachten Aufzug die Ebene erreichte. Von meinem Platz am oberen Ende der Röhre zählte ich mindestens 30 solcher untereinander liegender Ebenen, doch weiter unten schienen noch viel mehr Ebenen zu folgen. Abertausende von Zwergen bewegten sich im Kreis und sangen dabei: "Mannamana Manamananna Mannamana Manannana". Der Klang übertönte alles andere.
Shika hielt sich die Ohren zu, verzog das Gesicht und brüllte zu uns herüber: "Spinnen die?" Ich konnte nur mit den Schultern zucken. Dann sah ich den alten Mann. Er saß nicht weit von uns am Abgrund zum Felsendom und fischte mit einer Angel Fledermäuse, die er dann aber regelmäßig wieder frei lies. Noch bevor ich mich dazu entschließen konnte ihn anzusprechen, war es wieder einmal Shika, die mir zuvor kam und zu ihm hinüber brüllte: "Was machen die Zwerge da?"
"Das sind die Mannazwerge, die pumpen das Manna nach oben," brüllte er zurück. Damit schien für ihn aber die Unterhaltung beendet zu sein, denn er konzentrierte sich wieder auf das Fischen von Fledermäusen.

Dies also waren die entrechten Unterdrückten des Himmels, die alles am Laufen hielten. Das Manna schien natürlichen Ursprungs zu sein. Shika hob triumphierend die Faust.
"Wenn wir die Zwerge organisieren, ist uns der Himmel ausgeliefert."
Namiko hatte da ihre Zweifel.
"Ich weiß nicht, ob die sich organisieren wollen."
Jedoch bevor sie sich brüllend weiter über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der gewerkschaftlichen Organisation der Zwerge einigen konnten, passierte das Unglück. Aus welchen Gründen auch immer, auf einmal rannte die Kuh an uns vorbei und sprang mit weitem Satz über den Abgrund auf die erste Ebene, alle Zwerge, die ihr dort im Weg waren, beiseite fegend. Dann stürmte sie immer im Kreis auf der Ebene um die Mannaröhre herum. Ein Zwerg nach dem anderen fiel herab in den Abgrund, schon nach kurzer Zeit stand das oberste Pumprad still, der Fahrstuhl konnte nicht ausreichend Nachschub an Zwergen liefern, außerdem wurden diese sofort wieder von der Kuh in die Tiefe gestoßen. Aber dabei blieb es nicht. Die nach unten fallenden Zwerge fielen auf die tiefer gelegenen Ebenen und lösten dadurch eine Kettenreaktion aus, so dass ein Pumprad nach dem anderen zum Stillstand kam. Nach kurzer Zeit verstummte der Manna-Gesang. Nicht nur Shika atmete erleichtert auf, der Gesang war auf Dauer unerträglich gewesen. Doch unsere Erleichterung währte nicht lange, unvermittelt begann der Boden unter unseren Füßen zu schwanken und nur mit Mühe konnten wir uns zurück in den Stollen flüchten, dann war jählings oben unten und kurz darauf brach die Welt um uns herum auseinander. Irgendwann versank alles im Dunkel.

Als wir wieder erwachten lagen wir auf einem umgepflügten Acker zwischen Trümmern des Himmels. Glücklicherweise hatte sich aber keine von uns ernsthaft verletzt. Ich begriff, als ich mich umschaute, als erste, was passiert war. Infolge der unterbrochenen Mannaversorgung war der Himmel auf die Erde gestürzt, Schuld war die Kuh, die aber unweit einige Grasbüschel zum Zupfen gefunden hatte.
Später erfuhren wir, dass auch alle HimmelsbewohnerInnen überlebt hatten, nur Gott hatte sich beim Absturz aus irgendeinem Grund in einen Frosch verwandelt und der himmlische Geheimdienst strömte auf der ganzen Welt aus um alle aufgefundenen Frösche zu küssen in der Hoffnung, dass einer sich in Gott zurück verwandelte. Namiko war allerdings skeptisch, ob der Erfolgsaussicht.
"'Ich glaube nicht, dass das klappt, Frosch ist doch wohl eher seine normale Form".
Außerdem wurde die Suche dadurch erschwert, das Froschschenkelsuppe auf einmal wieder populär wurde. Dies führte Namiko auf das natürliche Bedürfnis von ChristInnen ihren Gott zu essen zurück, das als 'Heiliges Abendmal' ja fest in der Liturgie verankert war.
Die trotzkistischen Kader der sozialistischen Splittergruppe in der Shika früher, als sie noch gelebt hatte, Mitglied gewesen war, nahmen jetzt alle Gesangsunterricht, um die Mannazwerge besser agitieren zu können, die sie als das neue revolutionäre Subjekt identifiziert hatten. Da Shika ungern sang, arbeitete sie nicht wieder in ihrer alten Politgruppe mit. Außerdem fand sie, das die Gruppe nicht ausreichend berücksichtigte, dass viele Stellen für gering qualifizierte MitarbeiterInnen nun durch beseelte Melkschemel besetzt wurden, da diese keinerlei Tendenz zur gewerkschaftlicher Organisation zeigten. Besonders tat sich in diesem Zusammenhang ein großes Internetversandhaus hervor, dessen Gründer sich ohnehin für den rechtmäßigen Nachfolger Gottes hielt.

Ansonsten veränderte der Sturz des Himmels auf die Erde kaum etwas, den Kapitalismus schien dies alles nicht zu tangieren, ich konnte fast keinen Unterschied zu meinem früheren Leben auf der Erde feststellen.
Inzwischen hatte ich eine Anstellung in einer Nudelküche, die Rumiko gegründet hatte. Eines Abends nach Schichtende saß ich dort mit Shika über einem Topf dampfender Nudeln zusammen. Nachdem Shika ihren Anteil an den Nudeln verspeist hatte, blickte sie zu mir herüber und seufzte: "Was ist aus unserer revolutionären Perspektive geworden? Und aus der revolutionären Transformation der Konsumverhältnisse?" Rumiko, die dies zufällig gehört hatte brachte noch einen zweiten Topf Nudeln und blickte Shika mit klaren kühlem Blick an: "Die Befriedigung der Grundbedürfnisse ist das erste und vorrangige Ziel der Revolution."


FIN


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K.L. - Was du nicht weißt



'Die 33 verbotenen Suren

Es war einer dieser Tage im Juli an denen das Eis im Whisky schneller schmolz als Alfonso Caruczi brauchte um sich eine Kugel in den Kopf zu schießen, doch für die Lösung des Problems, des durch das Eiswasser verdünnten Whiskys, hatte sie gerade sowieso nicht den Kopf frei. Das lag nicht an der Tageszeit, Ira Turunen fand das es für ein Glas guten Bourbon nie zu früh war, sondern an der Waffe, die auf sie gerichtet war. Dabei waren sie hier in einem öffentlichen Park.
Sie war sich sicher, das die drei Mädchen auf der anderen Seite der Straße, die im Schatten eines Baumes saßen, nur die Handtasche sehen konnten und nicht die darin auf ihren Bauch gerichtete Waffe. Ein Bauchschuss tat höllisch weh und außerdem würde er ihr neues Jacket ruinieren, sie hatte es erst gestern gekauft, und die Frau mit Schleier würde kaum identifizierbar sein, also entschloss sie sich der Frau auf ihre Frage zu antworten: "Sie wollen wissen, was ich herausgefunden habe? Alles."
"Ach wirklich?" Die Tasche mit der Waffe drückte sich tiefer in ihren Bauch.
"Mohammed hat den Koran nicht geschrieben, die meisten Suren stammen von seinen Frauen, er hat sich nur als der Autor ausgegeben. Deshalb musste die damalige Nomenklatura die 33 Suren, die nach Mohammeds Tod hinzukamen, verschwinden lassen, damit der Schwindel nicht auffliegt. Ihre Organisation ist im Geheimen seit mehr als 700 Jahren verantwortlich dafür zu sorgen, dass dies so bleibt. Doch es gab immer wieder Abweichlerinnen und Abweichler, die dies anders gesehen und die 33 verbotenen Suren weiter verbreitet haben. Ich habe sie gesehen und gelesen. Ansich müsste man statt von dem Propheten von den Prophetinnen reden."
"Aber sie können nichts beweisen." Unter dem Schleier sah Ira ein selbstgewisses Lächeln. Dann wandte sich die Frau ab, jedoch drehte sie sich noch einmal zu ihr um: "Suchen sie nicht weiter. Sonst ruinieren sie sich doch noch ihr schönes Jacket."'



"Also mir erscheint das zu weit hergeholt." Taina saß im Schatten des Baumes auf der niedrigen Mauer neben der Bank, auf der Lauha zusammen mit Siiri die Beine ausgestreckt hatte, und schüttelte den Kopf. Doch Lauha wollte so schnell nicht aufgeben.
"Du hast sie doch auch vorhin mit der jungen Frau mit Schleier reden sehen - die mit der Handtasche."
"Und?"
"Na, dass beweist es doch."
Lauhas Gedanken spulten kurz zurück. Sie hatten den Nachmittag über nicht gewusst, was tun und waren dann aufgrund der Hitze hier im Schatten unter dem Baum hängen geblieben. Es war Siiri gewesen, der zuerst die verdächtige Frau ihnen gegenüber aufgefallen war. Sie sah aus wie eine typische überlastete Mutter und wirkte doch gleichzeitig viel zu cool dafür. Außerdem, wo war das Kind? Dann hatte Taina vorgeschlagen, das jede versuchen sollte herauszufinden, was diese Frau dort wirklich tat. Sie hatte sich als erste bereit gefunden ihre Theorie auszuführen und natürlich musste Taina ihr widersprechen.
"Ich bin sicher, das ich richtig liege, aber was glaubst du?"
Taina sah kurz Richtung Sonne.


'Sie sind hier

Die Dämpfe, die im Halbdunkel des Morgens von dem sumpfigen Boden aufstiegen, strichen wie feuchtkalte Finger über ihre Haut. Die Kälte hatte ihren Körper steif werden lassen. Sie konnte nur hoffen, dass die sie nicht entdecken würden, die, die sie seit Stunden beobachtete und immer noch nur die nannte, weil ihr die Begriffe für die Ungestalt dieser anderen fehlten. Da ertönte hinter ihr ein Knacken, beinahe hätte sie sich vor Schreck verraten, dann sah sie das junge Reh wegspringen. Auch die Augen der anderen waren nun auf das Rehkitz gerichtet.
Dr. Ilmatar Kilpinen dachte immer wieder an diesen Morgen in der Nähe der Sandkuhle in Kusebode zurück, sie konnte die Bilder nicht mehr abschütteln, obwohl nichts weiter passiert war. Selbst hier in dieser Kleinstadt in der Nähe des Spielplatzes mit den drei Mädchen, die gelangweilt gegenüber auf der anderen Straßenseite saßen, kamen die Bilder wieder hoch. Warum hätte sie nicht sagen können. Vielleicht weil die Frisbiescheibe, die zufällig zu ihren Füßen landete sie an das gemahnte, was sie entdeckt hatte und seit dem zu Vergessen suchte.
Angefangen hatte alles mit einem harmlos klingenden Auftrag einige ungewöhnlich Vorkommnisse in der Sandkuhle in einem kleinem praktisch aufgegeben Ort im Wendland mit dem Namen Kusebode zu untersuchen. Doch dann fielen ihr immer mehr seltsame Begebenheiten in diesem Nichtort auf. Wir konnte hier eine kleine Brauerei existieren und wieso war beim Brand des Ortes vor Hundert Jahren nur das Haus, das der Sandkuhle am nächsten stand, verschont geblieben, wohingegen alle anderen Häuser des Ortes abgebrannt waren? Und wie kam es überhaupt dazu, dass es diese Sandkuhle gab? Und die Brauerei entstand praktisch zur gleichen Zeit, als dieses letzte Haus des alten Dorfes abgerissen wurde. Und dann war da noch unweit des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe diese futuristisch anmutende metallische glänzende Anlage mit vielen Rohren mitten im Nichts. Sie hatte lange gebraucht um die Wahrheit zu akzeptieren, hier in Kusebode waren vor etwas mehr als Hundert Jahren Außerirdische gelandet, die Sandkuhle hatte sich dort gebildet, wo sie mit ihren Flugscheiben niedergegangen waren. Der Ort war bei einem Unfall mit einer der Flugscheiben in Flammen aufgegangen. Nur das Haus, dass die Außerirdischen als Basis nutzen, wurde von ihnen vor den Flammen gerettet. Und inzwischen hatten sie sogar eine Tankstelle für ihre Flugscheiben in unmittelbarer Nähe erbaut. All das hat ihr der alte Mann erzählt kurz bevor er starb. Sie besaß nun auch alle seine Unterlagen, Forschungen über die Flugscheiben.
Die Flugobjekte waren kreisförmig, wie eine Untertasse, sie waren die Landungsschiffe der Außerirdischen, konstruiert für den Flug in der Atmosphäre. Die äußere Hülle rotierte um eine innere Hülle, angetrieben nach dem selben Prinzip nach dem Magnetschwebebahnen funktionierten. Dieser Flugkörper flog nach den gleichen Gesetzlichkeiten wie eine Frisbie, die Bewegungsabläufe ähnelten denen klassischer UFO-Abbildungen, der Flugkörper konnte unter leichtem Schwanken an einem Ort in der Luft stehen und urplötzlich die Richtung wechseln. Die Rotation der Hülle sorgte, verknüpft mit den leichten Schwankungen, durch die Erzeugung von Bereichen unterschiedlichen Drucks für den Auftrieb und für die Fortbewegung. Die Berechnungen hatte der alte Mann an Hand einer Habilitationsschrift zur Luftströmungsverhältnissen von Bumerangs im Flug durchgeführt, für Bumerangs galten die gleichen Strömungsgesetzlichkeiten wie für Frisbies.
Doch nun stand sie hier, um sie herum lauter nichtsahnende Menschen, und wusste nicht, wie sie sich entscheiden sollte, waren die Menschen reif genug für die Wahrheit. Was würden wohl die drei Mädchen auf der anderen Straßenseite tun, wenn sie über die Außerirdischen Bescheid wüßten.'



"Flugscheiben, Kusebode, das hälst Du für wahrscheinlicher?" Lauha gab sich keine Mühe den spöttischen Tonfall in ihrer Stimme zu unterdrücken.
"Du hast doch gesehen, wie lange sie die Frisbie vorhin in der Hand behalten und betrachtet hat, bevor sie sie zurück warf. Das war doch nun wirklich verräterisch und viel auffälliger als das Gespräch mit der Frau."
"Und wieso Kusebode? Das ist dir doch nur in den Sinn gekommen, weil deine Familie aus Kusebode stammt. Sonst würdet du den Ort doch gar nicht kennen."
"Aber Kusebode ist wirklich verdächtig. Du müsstest nur mal dieses Metallteil da auf dem Hügel sehen, mitten im Nichts. Und wie kann sich diese Brauerei da halten, das ist einfach eine vollständig unglaubwürdige Tarnung."
Lauha wollte noch etwas erwidern, wurde jedoch von Siiri unterbrochen.
"Ihr habt beide die wirkliche Tragweite dessen, was diese Frau aufgedeckt hat, nicht begriffen. Schaut, wie gestresst sie wirkt, und dann ist dort gegenüber das naturhistorische Museum. Die Wahrheit stellt unsere Welt viel tiefgehender in Frage, als eure Erzählungen."


'Missing Link

Das Jochbein der Frau war wunderschön. Dies war ihr zuerst aufgefallen. Ruut Korhonen galt vielen ihrer Freundinnen und Freunde als Knochenfetischistin. Und sie würde diese erste Begegnung mit der Frau, die durch ihre Informationen all dies in Bewegung gesetzt hatte, niemals vergessen. Die Frau war Anfang 30, etwa in ihrem Alter, und sie hatte ihr die Abschrift eines verloren gegangen Briefes von Charles Darwin überreicht. Im Brief beschrieb Darwin seine Suche nach dem Missing Link, dem Zwischenglied zwischen Mensch und Affen, aber dann nahm der Brief eine überraschende Wendung. Zuerst war sie sich nicht sicher, ob dies eine Fälschung war oder nicht. Doch auch bei zwei weiteren Treffen wirkte die Frau mit dem umwerfend geschwungenen Jochbein weiterhin glaubwürdig. Sie hatte die Abschrift in den Kellergewölben eines alten Archives gefunden. Und dann war da noch dieser Knochensplitter, Teil eines Beckenknochens. Als Spezialistin für die Analyse archäologischer Knochenfunde konnte Ruut Korhonen die Bedeutung dieses Fundes nicht bestreiten. Also recherchierte sie weiter, bis ihr die Kopie einer alten Skelettabbildung in die Hände fiel. Und auf einmal passte alles zusammen.
Trotzdem wusste sie nur zu gut, dass eine Veröffentlichung dieses Wissens, das Ende ihrer Karriere bedeuten würde. Die Wissenschaft würde diese Erkenntnis nicht akzeptieren. Darwin hatte das Missing Link entdeckt, nur anders als vermutet, war der Mensch das Missing Link zwischen den Affen und der Kreatur deren Skelettabbildung in ihre Tasche steckte. Was war aus diesen Nachfahren der Menschen geworden, die eine höhere Evolutionstufe als diese erreicht hatten? Hatten sie die Erde verlassen, oder hatten sie sich selbst ausgelöscht? Auf jeden Fall war der Mensch nicht die Krone der Schöpfung.
Heute hatte sie sich eigentlich vorgenommen mit ihrer alten Professorin darüber zu reden, einmal vor Ort konnte sie sich aber nicht überwinden das naturhistorische Museum, in dem ihr alte Lehrerin arbeitete, zu betreten. So stand sie unentschlossen am Rande des Parks gegenüber dem Museum, warf eine Frisbie zurück und redete kurz mit einer Frau, die sie fragte, ob sie Papiertaschentücher hätte, ohne zu einer Entscheidung zu kommen. Auf der anderen Straßenseite saß im Schatten eines Baumes eine Gruppe Mädchen.'



Natürlich widersprach Taina auch Siiris Ausführungen, Lauha hatte nichts anderes erwartet.
"Da ist ja ein EMP-Attentat noch wahrscheinlicher."
"Wie kommst du darauf?"
"Hast Du nicht gesehen, wie nervös sie vorhin mit ihrem Smartphone herum gespielt hat und dann das Buch mit den Formeln, das sie, kaum hatte sie es aus ihrer Tasche gezogen, sogleich wieder darin verbarg."
Siiri blickte hinüber zu der Frau auf der anderen Straßenseite.
"Sollten wir dann nicht eingreifen?"
Doch Taina schien dazu nicht gewillt zu sein: "Dafür ist es zu spät."
Durch ein hörbares Ausstoßen der Luft durch ihre Nase unterbrach Lauha sie.
"Da glaube ich noch eher, dass sich in Wirklichkeit alles um Aufziehautos dreht."
"Aufziehautos?
"Du hast doch auch ihren Blick gesehen, als sie das kleine Spielzeugauto, das an ihrem Fuß hängen geblieben ist, neu aufgezogen und zu den Kindern zurückfahren lassen hat. Das Auto hat sie an ihre Verstrickungen in die verbrecherischen Machenschaften der Automobilkonzerne erinnert, die Unterdrückung des Wissens über Energiespeicherfedern, um zu verhindern, dass die mit Benzin betriebenen Fahrzeuge durch Aufziehautos ersetzt werden. Nur weil die Konzerne Angst haben, ihre Stellung am Markt einzubüßen."
"Wie soll das denn funktionieren?"
"Da siehst Du, wie gut die Hirnwäsche der Autoindustrie funktioniert, die wollen das verhindern und du merkst es nicht einmal. Wir lassen uns von ihrer Propaganda blenden und halten schon das Nachdenken über die Möglichkeit der Nutzung von Aufziehautos im Alltag für lächerlich. Und dabei ist deine Theorie mit dem EMP Attentat auch nicht wahrscheinlicher. Vielleicht irre ich mich in Kleinigkeiten, trotzdem bin ich mir sicher, dass dies die Richtung ist, in die wir denken müssen."
Siiri nickte: "Vielleicht ist es aber auch noch etwas unheimlicheres."
"Sicher ist nur, sie ist keine harmlose normale Frau."
"Was sollen wir tun?"
"An was denkst du?"
"Ich weiß nicht."
"Erstaunlich ist schon, dass alle anderen dies ignorieren."
"Die meisten Menschen fehlt die Aufmerksamkeit dafür, was alles um sie herum vorgeht. Sie würden schlichtweg darauf bestehen, dass es sich um eine ganz normale Frau handelt, und dabei ist doch gerade das besonders verdächtig."
"Und dann würden sie eventuell die Frau fragen und ihre Antwort als Beleg nehmen. Dabei würde das Bestehen der Frau darauf, das sie keine Detektivin oder Agentin ist, doch gerade das Gegenteil beweisen."
"Die glaubwürdige Darstellung der gestressten Mutter zeigt ihren hohen Grad an Professionalität und weist darauf, wie gefährlich sie ist."
"Darum halte ich meine Theorie mit dem Aufziehautoantrieb auch für die richtige."
"Und wenn alles miteinander zusammenhängt: Die Energiespeicherfedertechnik stammt vielleicht von den Außeridischen mit ihren Flugscheiben, bei denen es sich um die von der Erde vor 20.000 Jahren ausgewanderten Nachfahren, der auf den Menschen folgenden Evolutionsstufe handelt, und die auf Benziner fokussierten Automobilindustrie hat all dies Wissen unterdrückt, um die Technologie der Aufziehautos weiter geheim halten zu können."
"Und das EMP Attentat ist ein Versuch die Konkurrenz der Elektroautos auszuschalten und die Auseinandersetzung um die 33 Suren wurde nur als Ablenkung organisiert."
"Das macht Sinn, nur wird dir niemand zuhören, wenn du das der Öffentlichkeit erzählst."
"Das ist, wie bei den Außerirdischen, alle bestreiten, welche gesehen zu haben. Aber das zeigt nur, wie weit sie unsere Gesellschaft schon durchdrungen haben und wie sie bereits alles kontrollieren."
"Den meisten Menschen mangelt es einfach an der notwendigen realistischen Vorstellungskraft."
"Da ist nichts daran zu ändern, lasst uns ein Eis essen gehen."


FIN


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Z.I. - Nähe und Distanz



"Du hast mit Ari geschlafen?"
"Nein, obwohl sie vielleicht die erste Person gewesen wäre, die keine Forderung an mich gestellt hätte."
"Weil sie Alkoholikerin ist und im Suff gar nicht mitbekommt, wie die andere im Bett reagiert?"
"Das sind nur Vorurteile. Sie bemerkt es durchaus, nur würde sie sich darüber hinwegsetzen, falls ich zugestimmt hätte. Ich finde das rücksichtsvoll, ernst zu nehmen, was die andere sagt."
"Das findest du gut?"
"Ja, aber ich wollte sie nicht instrumentalisieren. Du wolltest ja nicht."
"Du hattest Angst, du warst völlig verkrampft. Ich konnte bei jeder Berührung spüren, wie du dich zurückgezogen hast."
"Aber, ich habe dir doch gesagt, dass ich wollte."
"Das wirkte aber nicht so."
"Ein Nein als Nein zu akzeptieren ist wichtig, aber das gleiche gilt für ein Ja. Ari versteht das glaube ich besser als du. Sie hätte mein Ja als Ja akzeptiert."
"Ich kann das nicht, ich kann nicht einfach darüber hinweg gehen, wie du reagierst."
"Ich finde das feige. Damit meine ich nicht, dass du keine Lust hattest, sondern, dass du mich als Ausrede benutzt, meine Reaktion. Du solltest zumindest so ehrlich sein zuzugeben, dass es deine Bedürfnisse waren, deine normativen Vorstellungen von Sexualität, die es verhindert haben. Du hast entschieden."
"Und du findest das falsch?"
"Falsch? Inkonsistent mit dem Bild von dir, dass du vor dir her trägst. Du behauptest offen und unkon-ventionell zu sein, tolerant und doch kannst du mein Körperverhalten nicht akzeptieren. Du wusstest um meine Angst und dass ich keinerlei sexuelle Erfahrung habe, ich habe noch nicht einmal andere richtig geküsst, nicht freiwillig. Nicht seit ich als Kind ... ."
"Ich wollte dich nicht verletzen."
"Du wolltest dich nicht verletzen. Das ist legitim. Nur natürlich nehme ich das als Ablehnung von mir war, wenn du das Zittern meines Körpers nicht akzep-tieren kannst."
"Nimmst du mir das übel?"
"Manchmal habe ich ungute Gedanken. Denke, dass es für dich kein Problem wäre, dich auf die Täter einzulassen, sie dürften kaum Schwierigkeiten haben als souveräne Körper zu agieren. Aber ich will das nicht denken und ich weiß, dass du dich niemals wissentlich auf einen Täter einlassen würdest und das Männer dich sowieso nur nach-rangig interessieren. Und doch, die Forderung an mich, die Angst zu überwinden, finde ich falsch. Und wie sollte ich, wenn alle Erfahrungen, die ich habe, mit Gewalt verbunden sind und andere Erfahrungen nicht möglich sind, weil die anderen aus Rücksichtnahme nicht mit mir ins Bett gehen."
"Aber glaubst du nicht, es wäre auch für dich besser diese Ängste zu überwinden, dein Körperverhalten zu ändern?"
"Ich behaupte nicht, dass meine Reaktionen gut sind. Ich weiß, dass ich dauernd zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Gehalten werden und Distanz hin und her schwanke, dass ich in diesem Sinn eine Zumutung bin für Menschen, die mir nahe sind. Und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass Menschen mich jenseits des Benutzens begehren könnten. Das ist vermutlich ein Grund, weshalb viele Opfer sexueller Gewalt in Beziehungen immer wieder ähnliche Muster wiederholen. Und es ist ein Grund aus dem ich niemals eine Beziehung zu einem Mann eingehen würde. Mit Ari wäre das anders gewesen. Sie respektiert, was ich sage. Aber meine Befürchtung war, dass ich sie benutze, das wollte ich auch auf keinen Fall."
"Willst du, dass ich mit dir schlafe?"
"Nein, ich will kein Mitleid. Es ist nicht wirklich wichtig."
"Was willst du tun?"
"Nichts."


FIN


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Z.I. - Begehren



I - Kompromisse

"Ich verstehe nicht wirklich, wie es überhaupt zustande kommt, dass Menschen sexuell zusammenfinden."
"Wieso?"
"Nur weil ich jemanden begehre, heißt ja nicht, dass diejenige oder derjenige mich begehrt. Berücksichtigst du zusätzlich, dass auch noch Ort, Umfeld und Zeitpunkt stimmen müssen, ist es sogar extrem unwahrscheinlich, dass zwei Menschen sich zufällig zum gleichen Zeitpunkt begehren."
"In der Realität findet das aber relativ häufig statt."
"Glaubst du tatsächlich, die meisten Menschen sind zusammen, weil sie sich gegenseitig begehren?"
"Wenn Du eine Beziehung willst, musst du Kompromisse schließen."
"Ich habe Beziehungen zu anderen Menschen."
"Du weißt, was ich meine."
"Ich finde nicht, dass das eine Lösung ist."
"Du musst wissen, was du tust. Wenn Du lieber allein bleiben willst."
Sie wandte sich Schulter zuckend ab.


II - Was willst du?

"Mann oder Frau? Zumindest das müsstest du doch entscheiden können."
"Frau, vermutlich."
"Also willst du dich in eine Frau verlieben?"
"Ich meinte mich."
"Dich? Und wieso dann das vermutlich?"
"Bist du dir sicher, was du bist?"
"Ja."
"Woher weißt du das?"
"Du erwartest nicht ernsthaft eine Antwort auf diese Frage. Vermisst du es gar nicht, begehrt zu werden?"
"Nicht wirklich, manchmal denke ich nur, ich sollte schon, einfach weil alle es erwarten."
"Und was ist mit Dir?"
"Ich weiß nicht. Ich würde mir gerne zusammen mit dir den Film von Jean-Luc Godart anschauen."


III - Das wirkliche Leben

Ihr Atem strich sanft über meine Haut. Dann lachte sie.
"Deine Armbeuge sieht aus dieser Perspektive total seltsam aus."
Ich drehte meinen Kopf zur Seite, um selbst zu schauen.
"Findest du?"
Auf einmal biss sie spielerisch zu. Ich pustete ihr ins Ohr. Wir blieben im Bett bis in der Nachbarwohnung die Kinder zu laut lärmten. Als ich vom Duschen zurück kam, blickte sie mich nachdenklich an.
"Stört es dich nicht, mit mir zusammen zu sein?"
"Weil du immer noch im Bett liegst, oder weshalb?"
Doch sie schüttelte nur den Kopf.
"Du weißt wieso?"
"Wieso sollte mich interessieren, was die anderen denken?"
"Darum geht es nicht, aber reicht dir das Zusammensein mit mir?"
"Wieso sollte es nicht?"
"Vermisst du nicht das Begehren in der realen Welt?"
"Die Wirklichkeit für mich ist das Leben mit dir."
"Aber ich bin nur ein Traum."
"Na und."
"Die anderen werden das nicht verstehen."
"Ich weiß, und dabei reden sie immer von Toleranz und sexueller Freiheit. Ich zwinge doch auch niemanden in meiner Phantasie zu leben, also wieso meinen sie das Recht zu haben, mich zu zwingen, in ihrer Realität zu leben?"
"Liebst du mich?"
"Das weißt du doch."
"Dann ist alles gut."
Sie zog mich zurück ins Bett. Ihr Hände waren kühl, als sie mich berührten.


FIN


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Impressum:


























Zuletzt aktualisiert 30.01.2021





Kurztexte, Kurzgeschichten, Literatur, Liebe, Begehren, Verschwörungstheorien, ungeschriebene Bücher, unvollendet, Traum, Mannazwerge, Sexualitauml;t, Geschlecht






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